Zorn und Zärtlichkeit
er sich einbildete, er könnte sie haben.«
»Deine Mutter.«
Langsam rollte eine Träne über Lydias Wange. Anscheinend hatte sie die Frage nicht gehört, und sie sah so verzweifelt aus, dass es Sheena nicht übers Herz brachte, in sie zu dringen. Doch die alte Frau bedurfte ohnehin keiner Aufforderung, um weiterzusprechen.
»Fergusson war so ein hübscher Mann mit seinem dunkelroten Haar und den strahlend blauen Augen. Mein Onkel Donald war so wütend, als er ihn wegbrachte. Er hat ihm doch nichts angetan? Fergusson hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Dass er sie liebte, war sein einziges Verbrechen.«
Wusste Lydia nicht, wie grausam ihr Onkel Donald den Laird von Fergusson getötet hatte - damals, vor vielen Jahren? Anscheinend hatte Sheenas Großvater Niall Lydias Mutter geliebt und war hierhergekommen, um sie zu sehen. Hatte sie ihm ein Stelldichein gewährt? Aber nach Jamies Aussage war Niall der Mörder seiner Großeltern. Wieso hatte jenes heimliche Treffen ein so furchtbares Ende gefunden? überlegte Sheena bestürzt.
Lydia schien ihre Gedanken zu lesen. »Meine Mutter sagte mir, dass sie abreisen würde. Ich wünschte, sie hätte es mir verschwiegen - denn dann wäre ich ihr nicht gefolgt. Aber sie wollte nicht, dass ich mir Sorgen machte, und sie versprach, mich bald in ihr neues Heim zu holen. Sie erklärte, sie würde ihn nach Frankreich begleiten. Auch er hätte eine Familie, die er verlassen müßte. Nachdem das alles geschehen wäre, könnten sie nicht mehr in Schottland bleiben. Ich weinte bitterlich. Doch das konnte sie nicht umstimmen - obwohl ich mit aller Macht versuchte, sie zurückzuhalten. Ich wusste , wie wütend mein Vater sein würde - und ich sollte recht behalten. Mitten im Hof trat er den beiden in den Weg. Es war eine helle Vollmondnacht, und ich sah von meinem Versteck aus, wie es geschah. Da standen sie und stritten. Vater war außer sich - und ganz anders als sonst. Ich glaube, er hat den Verstand verloren. Und dann - dann...«
Tränenüberströmt Schloss Lydia die Augen. Sie kreuzte die Arme über der Brust und wiegte sich wimmernd hin und her, während sie in ihrem armen, wirren Geist noch einmal erlebte, was sie vor so vielen Jahren beobachtet hatte. Auch Sheena stellte sich die Szene vor, die sich damals abgespielt haben musste . Der Ehemann war seiner Frau und ihrem Liebhaber entgegengetreten, von schmerzlichem Zorn verzehrt - wenn er sie geliebt hatte. Was es wirklich Liebe gewesen? Oder hatte er sie nur als seinen Besitz betrachtet, von dem er sich nicht trennen wollte? War nur sein Stolz verletzt worden?
Sie durfte Lydia nicht erlauben, das Ende der Geschichte zu erzählen. Die alte Frau war so unglücklich, und Sheena befürchtete, die bösen Erinnerungen könnte ihr einen ernsthaften Schaden zufügen.
Hastig stand sie auf und legte einen Arm um Lydias Schultern. »Ich bringe dich jetzt in dein Zimmer zurück.«
»O nein, ich kann nicht gehen. Ich muss hier warten. Mutter wird zurückkommen - nachdem er sie mit Fergusson ertappt hat. Ich will ihr sagen, dass sie sich nicht ängstigen soll. Vater liebt sie. Er wird ihr verzeihen.«
»Natürlich«, bestätigte Sheena, die nicht wusste , was sie sonst sagen sollte. »Aber du muss t dich jetzt ausruhen.«
»Nein!« Lydia stieß sie von sich, mit erstaunlich starken Händen. Ihr flackernder Blick irrte ziellos umher. »Er zieht sein Schwert - und da greift auch Fergusson zu seiner Waffe. Meine Mutter schreit auf, und sie kämpfen. Fergusson läßt sein Schwert fallen... Mein Vater hebt es auf - wirft sein eigenes weg - hält Fergussons Waffe fest und starrt sie an... Nun blickt er auf meine Mutter... Nein! Er stürzt sich auf sie und ersticht sie. Fergusson kann ihn nicht daran hindern, und Vater schiebt ihn beiseite. Sie bricht zusammen... O Gott, das Blut - überall Blut! Ich höre Vaters wilden Kriegsruf... Aber Fergusson läuft nicht davon. Er schaut auf meine Mutter hinab - und Vater auch und... Nein! Jetzt durchbohrt er mit der Klinge seine eigene Brust, zieht sie wieder heraus - und das Blut strömt hervor - so viel Blut! Das Schwert landet vor Fergussons Füßen, er sieht es nicht. Er muss doch fliehen. .. Da kommt mein Onkel...«
Sheena fühlte sich elend. Dass ein Kind das alles miterlebt hatte...!
»Lydia, jetzt ist alles gut - es ist vorbei...«
»Noch lange nicht... Mein Onkel glaubt, Fergusson hätte die beiden ermordet. Ich sagte ihm die Wahrheit, aber er schlug mich und nannte mich eine
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