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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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der Existenz- und Koexistenzzumutung überhaupt zum Vorschein.
    Dem Zorn begegnet man in molluskenhaften Aufwallungen dieser Art auf dem Nullpunkt der Artikulation. Nach seinem Rückfall auf die diffus-universelle
     Unlust-Stufe hat er jede Sammelbarkeit, Verwandelbarkeit und Bildungsfähigkeit preisgegeben. Von dem engen Zusammenhang zwischen Wertempfinden,
     rechtlicher Sensibilität und Empörungsfähigkeit – dieser Matrix der demokratischen Irritationskultur – weiß er schlechthin nichts mehr. Er scheint nun
     abgesunken auf eine subthymotische Ebene, von der aus es keinen Anlauf zur Geltendmachung eigenen Werts und eigener Ansprüche mehr gibt. 26 Auf dem »Grund« desdunkelsten Zorns regt sich, diffus und unartikulierbar, das Verlangen nach einem Ende der Demütigung durch das Reale. Es handelt sich um einen Extremismus der Müdigkeit – eine radikale Dumpfheit, die sich jeder Gestaltung und jeder Kultivierung verweigert. Seine Agenten würden in Wahrheit am liebsten keinen Finger rühren, wenn Sich-tot-Stellen das Mittel wäre, um aus dem Kessel des Scheiterns herauszukommen. Wenn sie um sich schlagen, um zu zerstören, was ihnen zufällig in die Quere kommt, geschieht das wie in einer Fremdsprache aus Gebärden, an deren Sinn sie selber nicht glauben. Diesen Extremisten des Überdrusses bedeutet ihr eigenes massenhaftes Vorkommen nichts. Sie wollen nicht wissen, daß sie möglicherweise die stärkste der Parteien wären – könnten sie überhaupt für etwas Partei ergreifen, und seien es die eigenen Interessen.
    Diese Internationale der Menschenüberdrüssigen existiert in fortwährender Selbstauflösung. Nacht für Nacht zerfällt sie in Millionen von isolierten
     Betäubungen, jeden Morgen streicht sie sich selbst mitsamt ihren Anliegen formlos von der Tagesordnung. Keine konstituierende Versammlung wäre in der
     Lage, ihrem maßlosen Einspruch gegen den Stand der Dinge Form und Inhalt zu geben. Wo fragmentarische Aufläufe zustande kommen, erkennt man die Thesen der
     Akteure am Tag danach an Scherben, Trümmern und verbrannten Blechen. Es überrascht nicht, wenn sich die Mitglieder derunmöglichen Internationale vom Gedanken an eine organisatorische Sammlung in keiner Weise angesprochen fühlen. Jede Art zielhafter Kooperation mit ihresgleichen würde den Schritt in die Transzendenz, die Nicht-Müdigkeit, die Nicht-Besiegtheit bedeuten, den nicht zu tun ihre intimste Rache an den Verhältnissen ist.

Das Welttheater der Drohungen
    Zum Schluß wollen wir uns einen Panoramablick im Stil einer weltgeschichtlichen Betrachtung erlauben und summarisch auf die Schicksale des Thymotischen während der letzten zweihundert Jahre zurückschauen, um sie vor den Hintergrund der beiden monotheistischen Jahrtausende zu setzen. Hierbei wird sich zeigen, daß die zwei mächtigsten Organe der metaphysischen und politischen Zornsammlung in der okzidentalen Zivilisation, die katholische Zorn-Gottes-Lehre und die kommunistische Organisation der antibourgeoisen und antikapitalistischen Zornmassen, den Prüfungen der Zeit und dem Mentalitätswandel nicht standgehalten haben.
    Der Katholizismus überlebte die Heraufkunft der Moderne nur um den Preis einer widerwilligen Anpassung an den Tag, die sich über zwei volle Jahrhunderte hinzog. In dieser langen Periode gefiel er sich in Verweigerungsgesten, die dem theozentrischen Antimodernismus islamischen und islamistischen Typs, den wir aus aktuellen Quellen kennen, aspektweise zum Verwechseln ähnelten. Während seiner Trotzphase wütete er gegen die Anmaßung der Modernen, die Religion zur Privatsache machen zu wollen, und bäumte sich im Stil einer zelotischen Gott-allein-Bewegung gegen die Tendenzen zur Ausbildung einer selbstbewußt laizistischen oder distanziert religionsneutralen Staatskultur auf. Der Wandel der Grundhaltung im Katholizismus war jedoch auf Dauer nicht vermeidbar, obschon er nicht vor derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Abschluß kam. Er brachte eine tiefgehende theologische Umrüstung mit sich: Um endlich Frieden mit der Moderne schließen zu können, mußte sich Rom von den vormals unverhandelbar scheinenden antihumanistischen und antiliberalen Überlieferungen trennen, die im Absolutismus der Gottesrechte wurzeln. Die Wandlung erreichte einen Punkt, an dem die katholische Theologie sich selbst als Organon für eine tiefere Begründung der Menschenrechte definierte. Naturgemäß zog dies den Verzicht auf die entwürdigende Einschüchterung der

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