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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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ins mediale Scheinwerferlicht.
    Jean Baudrillard hat in einem schneidenden Kommentar für die Tageszeitung Libération 20 den Skandal im Skandal auf den Begriff gebracht: Erst durch die Novemberkrawalle wurde die französische Öffentlichkeit darauf aufmerksam, daß in ihrem Land das ganze Jahr über Nacht für Nacht in einer Reihe von Städten durchschnittlich 90 Fahrzeuge in Brand gesteckt werden – allein im Lauf des Jahres 2005 sollen es über 28.000 gewesen sein, davon entfielen circa 9000 auf die banlieue -Unruhen und ihre Nachahmungen in der Provinz. Der Gipfel der pyromanischen Spiele wurde während der Nacht des 7. November erreicht, als landesweit mehr als 1400 Autos brannten. Darüber hinaus hält die Statistik für das Jahr 2005 bis zum November 17.500 Brandstiftungen in Müllcontainern und nahezu 6000 vandalische Akte gegen öffentliche Telefonzellen und Bushaltestellen fest.Obschon die Tätersoziologie für die chronischen Attacken etwas komplexere Bilder zeichnet, besteht ein hohes Maß an Ähnlichkeit zwischen den Akteuren des akuten Aufruhrs und denen der permanenten Zündelei. Es handelt sich stets um dieselben zornigen jungen Männer, bei denen zu dem Doppelelend von Arbeitslosigkeit und Hormonüberdruck die explosive Einsicht in ihre soziale Überflüssigkeit hinzukommt. Es wäre leichtsinnig, nicht begreifen zu wollen, daß sie die potentiellen Rekruten jedes Kriegs bilden, der ihnen eine Perspektive aufzeigte, wie sie aus dem Kessel ihrer unfreiwilligen Apathie ausbrechen könnten.
    Im Blick auf die täglichen Brandstiftungen, die jahrelang unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der Medien blieben, spricht Baudrillard sarkastisch von einem neuen Ewigen Licht, das zu Ehren des Unbekannten Einwanderers brennt, der Flamme am Arc de triomphe vergleichbar. Die wilden Flammen zeugen dann für das psychopolitische Debakel der französischen »Gesellschaft«, der es nicht gelingt, einem großen Teil ihrer arabischen und afrikanischen Zuwanderer und deren Nachkommen ein Bewußtsein der Zugehörigkeit zur politischen Kultur des Ankunftslandes zu vermitteln. Doch ist dies eine Fehlbeschreibung der Lage, denn es geht nicht um die französische »politische Kultur«, deren Schönheiten sich den zornigen Jungen nicht erschließen, sondern um attraktive soziale Positionen, die zu erlangen die Einwanderernachkommen keine wirklichen Chancen besitzen. Wenn Baudrillard die Frage stellt: »zugehörig wozu eigentlich?«, setzt er bereits mit provozierender Abgeklärtheit das Verschwinden des republikanischen Ethos als maßgeblicher politischer Feldkraft in der französischen Zivil»gesellschaft« voraus. Einen verwandten Befund formulierte Régis Debray mit mediologisch-kulturtheoretischem Akzent, indem er, nicht ohne Wehmut, das Fehlen einer effektiven Zivilreligion in Frankreich konstatierte. Träfe seine Diagnose zu, würde es nicht weniger bedeuten, als daß das Land unwiderruflich ineine Situation eingetreten ist, die nicht nur postgaullistische, sondern postrepublikanische Züge trägt. Baudrillard kommt seinerseits zu dem aufreizenden Schluß, die Mehrheit der Franzosen verhielten sich inzwischen wie unsichere und von Ressentiments geplagte Einwanderer im eigenen Land. Als Bodenständige könnten sie sich nur noch behaupten, indem sie andere Einwanderer diskriminieren.
    Tatsächlich wird durch die exzessive These, die »Gesellschaft« sei für sich selbst zum Phantomkollektiv geworden, das Augenmerk auf die psychopolitischen Folgelasten der kapitalistischen Erotisierung gelenkt. 21 Vermutlich würde ein geduldigerer Blick auf die demokratisch-republikanischen Reserven der politischen Kultur Frankreichs beweisen, daß es um ihre Regenerationsfähigkeit doch etwas besser steht, als die geistreich pessimistischen Kommentatoren glauben. Das belegen die landesweiten Streiks, durch welche die Regierung von Ministerpräsident de Villepin im März 2006 gezwungen wurde, das von der Nationalversammlung verabschiedete Gesetz zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts für Berufsanfänger ( Contrat premier embauche ) zurückzuziehen. Andererseits beweisen diese Proteste, daß die französischen Jugendlichen in einer Illusionsblase zu Hause sind, in der man Privilegien verteidigt, als ob es Grundrechte wären. Der aktuelle Grad der subversiven Massenerotisierung verdeutlicht freilich auch, wie sehr die traditionellen thymotischen Ensembles vom Typus Volk, Nation, Partei, Konfession durch die Politik des Begehrens im

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