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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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der Negativität, mit deren Ausbreitung das vormals so genannte Unbehagen in der Kultur sich zu einem Aufruhr in der mißlungenen Zivilisation verschärft. Diese Art von Negativität hat mit den bisher behandelten Formen des moralisch artikulierbaren und politisch sammelbaren Zorns nur noch sehr wenig gemeinsam. Nachträglich erst begreift man im Blick auf diese Phänomene das ganze Ausmaß der anthropologischen und politischen Fahrlässigkeit, deren die traditionelle Linke, insbesondere auf ihrem bolschewistischen Flügel, aber auch in ihren liberaleren Formen, sich schuldig machte, als sie bei ihren Mitgliedern wie bei den sogenannten Massen unbesehen eine naturgegebene und ambivalenzfreie Bejahung des Zusammenseins von Menschen mit Menschen in großen sozialen Verbänden unterstellte.
    Das mindeste, was man über diese primären soziophilen Annahmen sagen müßte, ist, sie beruhten auf einer einseitigen Sicht der Verhältnisse. Realistischerweise wäre stets mit einer ebenso primären soziophobischen Komponente in der menschlichen Vergesellschaftung zu rechnen. Keine Sozialpolitik besäße je die geringste Aussicht auf Erfolg, die nicht verstünde, daß es der Sinn sozialer Organisation sein muß, die Belästigung des Menschen durch den Menschen in Schranken zu halten. Gegen dieses Gebot haben die kollektivistischen Regime des 20. Jahrhunderts mutwillig verstoßen, indem sie einen beispiellosen Sadismus der Zusammenpferchung erfanden: Die äußerste Bosheit der Lagerwelten, wie sie von Lenin, Stalin, Hitler und Mao geschaffen wurden, enthüllt sich nicht so sehr in der Tatsache, den Menschen auf den Status eines »nackten Lebens« zu reduzieren, wie Giorgio Agamben in einer zugespitzten Interpretation zu zeigen versuchte. Vielmehr beruht das Lager auf der Intuition, wonach die Hölle die anderen sind, sobald sie sich gegenseitig ihre unwillkommene Nähe aufnötigen – Sartre hat in Huis clos lediglich die Makrohölle gegen die Mikrohölle ausgetauscht. Wer seine Feinde zur totalen Koexistenz aneinanderklebt, sorgt dafür, daß jeder einzelne auf der kleinen Flamme der induzierten Feindseligkeit gegen seinesgleichen zerrüttet wird. Allein Heilige überstehen Lagersituationen ohne Entmenschung. »Lager« ist nur ein konventioneller Name für die modernen Feuerstellen der Misanthropie. Ohne Berücksichtigung des okkulten misanthropischen Substrats – nur andeutungsweise enthüllt in dem verborgenen Alltagsurteil, es müsse den Menschen um Menschen nicht leid tun (Céline: »ein Arschloch weniger«) – würden die exterministischen Exzesse der jüngeren Vergangenheit noch dunkler bleiben, als sie es allen bisher versuchten historischen und psychologischen Erklärungen zum Trotz ohnehin sind. Der Lehrsatz homo homini lupus verliert unter diesen Aspekten seine Triftigkeit. Wer vom Jahrhundert der Wölfe spricht, um das 20. Jahrhundert zu bezeichnen, denkt noch immer zu harmlos.
    Auch die Xenophobie der Rechten ist nur eine der Gußformen des misanthropischen Plasmas. Dieses kann als solches nicht sichtbar werden, solange es in konkret adressierten Ausprägungen vorliegt, die eo ipso seine Pseudonyme, seine ideologischen Garderoben, sind. Wer nur an den politischen und ideologischen Kostümen des Ekels am Sozialen Anstoß nimmt, versäumt die misanthropische Botschaft als solche. Für die übliche Kritik der Fremdenfeindlichkeit durch die Vertreter der liberal-philanthropischen Majorität ist die Annahme bezeichnend, man habe sich selber inSicherheit gebracht, wenn man laut genug sein Befremden über das Befremden der anderen bekundet. Von den dunkleren Aspekten der misanthropischen Gestimmtheit will man auf keine Weise Kenntnis nehmen, bei sich selbst so wenig wie bei den anderen. In Wahrheit ist die soziophobisch-misanthropische Tendenz im linken Lager ebenso zu Hause wie im rechten, sie eifert in allen opportunen Idiomen gegen die Zumutungen der Koexistenz mit was und wem auch immer. Erst der epidemische amorphe Vandalismus läßt die negative Grundsuppe an die Oberfläche steigen. Mit ihr wird eine primäre, ungemischte und ungemilderte Misanthropie, die bodenlose Unlust an Mitwelt und Gesellschaft, ja an der Welttatsache überhaupt, als Verhaltensradikal darstellbar. Dabei zeigt sich, wie die Misanthropie ihrerseits die Spezialform einer amorphen Negativität bildet, die man durch Begriffe wie Misokosmie oder Misontie bestimmen könnte: Feindseligkeit gegen Welt und Seiendes im ganzen. Sie bringt die Unlust an

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