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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Populärkapitalismus gleichsam hinter dem Rücken der Akteure geschwächt, teilweise sogar aufgelöst wurden. Dadurch wird jeder einzelne Konsumbürger – sofern er nicht durch familiale, kulturelle und korporative Gegenkräfte in Form gehalten wird – zunehmend in die vergiftete Einsamkeit einer zum Scheiternverurteilten Begehrensaufreizung fixiert. Als die Franzosen im Mai 2005 beim Referendum über die europäische Verfassung mit nein stimmten, vollzogen sie, Baudrillard zufolge, einen Akt, der seinem politischen und gestischen Gehalt nach das genaue Äquivalent zur Randale der Desintegrierten in den Vorstädten darstellte. Sie benahmen sich in deutlicher Mehrheit wie Stimmzettel-Brandstifter. Ihr Verhalten war das von Integrationsverweigerern, die sich zu dem von der politischen Klasse angepriesenen Objekt Europa kaum weniger höhnisch verhielten als die banlieue -Jugendlichen zu den Attraktionen der französischen Republik.
    Die Beobachtungen, die Baudrillards und Debrays Diagnosen zugrunde liegen, konvergieren in einer dunklen Zone. Sie bringen einen amorphen Negativismus ans Licht, an dessen Phänomenologie seit längerem sporadisch gearbeitet wird, indessen die Therapie wie die Politik auf der Stelle treten. In seinem Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg von 1993 zitierte Hans Magnus Enzensberger einen Sozialarbeiter aus der Banlieue von Paris, der die vandalische Dynamik anschaulich beschrieb – auf eine noch heute bis ins Detail wiedererkennbare Weise:
    »Sie haben schon alles kaputtgemacht, die Briefkästen, die Türen, die Treppenhäuser. Die Poliklinik, wo ihre kleinen Brüder und Schwestern gratis behandelt werden, haben sie demoliert und geplündert. Sie erkennen keinerlei Regeln an. Sie schlagen Arzt- und Zahnarztpraxen kurz und klein und zerstören ihre Schulen. Wenn man ihnen einen Fußballplatz einrichtet, sägen sie die Torpfosten ab.« 22
    Enzensberger reiht diese Beobachtungen zu einem Panorama von Szenen verwahrloster Gewalt, die er unter dem Titel »molekularer Bürgerkrieg« resümiert. Die typische Geste dieses »Krieges« und seiner »Krieger« ist die ziellose Verwüstung des Terrains, das nur zum Schein »das eigene« darstellt. Solches Verhalten bildet, dem Autor zufolge, eine Antwort auf die dunkle Erkenntnis, die aus allen Bildern von überfüllten Lagern und trostlosen Vorstädten spricht: »daß wir zu viele sind«. Solches Wissen muß seine Träger aus der Fassung bringen. Wenn diese schließlich, nicht selten bis dahin unauffällige Figuren vom Rande, blind um sich schlagend, die »Abschaffung der Überflüssigen« in die Hand nehmen wollen, so tun sie dies, weil »sie insgeheim sich selber« zu ihnen »zählen«. 23
    Die Hinweise auf den »molekularen Bürgerkrieg« nehmen zunächst fast unmerklich zu: vermehrter Müll an den Straßenrändern, zerbrochene Bierflaschen auf den Fahrbahnen und Gehwegen, weggeworfene Spritzen im Park, monotone Graffiti überall, »deren einzige Botschaft der Autismus ist«. Mit der Zeit erreichen die Symptome der Zerstörung eine kritische Schwelle: zertrümmerte Schulmöbel, zerstochene Reifen, mittels einer Drahtschere unbrauchbar gemachte öffentliche Telefone, angezündete Autos – nun wird deutlich, daß hier eine dumpfe Sprache der Unlust am Vorhandenden ihre Zeichen setzt. Es handelt sich aber noch nicht einmal um Spuren eines »Bürgerkriegs«. Von einem solchen könnte gesprochen werden, wenn formierte Parteien von Kämpfern einander als konfrontierbare Realitäten gegenüberträten. Statt dessen kommen in den vandalischen Improvisationen Wellen präobjektiver Negativität ins Bild, die für die Unfähigkeit ihrer Träger zeugen, als Bürger, und sei es als kämpfende Bürger, zu agieren. In alledem treibt, wie Enzensberger luzide bemerkt, eine »Wut auf das Unbeschädigte« ihr Wesen, ein »Haß auf alles, was funktioniert«, ein Groll gegen die Verhältnisse, »der mit dem Selbsthaß ein unauflösliches Amalgam bildet«. 24 Übrigens hatte der Autor bereits zu dieser Zeit dem Fernsehen eine enge Komplizenschaft zusämtlichen Formen des kuranten Vandalismus attestiert, da es »wie ein einziger riesiger Graffito« 25 funktioniert, an die Wand geschmiert von zornigen Halbirren, die wissen, was zu tun ist, um mit Hilfe einer benzingefüllten Bierflasche, eines Feuerzeugs und williger Aufnahmeteams unfehlbar in den Abendnachrichten aufzutauchen.
    Was wir als »Sprache der Unlust am Vorhandenen« bezeichnet haben, beschreibt eine Epidemie

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