Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
verborgenen Vernunft in der Geschichte richtet. Sollte man die Leistungen des Kommunismus distanziert zusammenfassen, wären in erster Linie seine externen Wirkungen zu erwähnen, welche die internen an Produktivität um ein vielfaches übertrafen. Sie waren freilich so paradox, daß sie kaum je ausdrücklich zur Sprache kamen. Man muß hier nicht noch einmal die oft gewürdigten Anstrengungen der Sowjetunion im Kampf gegen die Invasionsarmeen des Nationalsozialismus in Erinnerung rufen. Der wichtigste äußere Effekt des realen Kommunismus entfaltete sich in Wahrheit erst nach 1945, als vor dem Hintergrund des waffenklirrenden Stalinregimes und seiner Vorposten in Mittel- und Westeuropa eine historisch einzigartige Chance für den Ausbau des europäischen Sozialstaatsystems entstand.
Ironischerweise erzielte die kommunistische Weltbank des Zorns ihren bedeutendsten Erfolg im Modus einer nichtintendierten Nebenwirkung. Indem sie ein wahrhaft furchterregendes politisches und ideologisches Drohpotential akkumulierte, half sie ihren vormaligen Hauptgegnern, den westlichen gemäßigten Sozialisten und Sozialdemokraten, zum Höhepunkt ihrer historischen Leistungsfähigkeit zu gelangen. Sie machte es den parlamentarisch integrierten sozialistischen Parteien in Europa leicht, den liberalen und konservativen Geschäftsführern des Kapitals eine beispiellose Fülle von Zugeständnissen bei der Umverteilung des Reichtums sowie beim Ausbau der sozialen Netze abzunötigen. In dieser Konstellation schien es den Sozialpartnern des Westens plausibel, weite Teile der nationalen Industrien, namentlich in Frankreich und Großbritannien, in staatliche Regie zu überführen.
Wenn zutrifft, daß Souveränität das Vermögen bezeichnet, glaubhaft zu drohen, so erzielten die westeuropäischen Arbeitnehmerparteien und Gewerkschaften ihre höchsten Souveränitätseffekte kraft einer indirekten Klassenkampfdrohung, die sie in die Auseinandersetzungen der Tarifparteien einzubringen vermochten, ohne selbst die Faust ballen zu müssen. Es genügte ihnen, den Blick diskret auf die Realitäten der Zweiten Welt zu lenken, um der Arbeitgeberseite klarzumachen, auch hierzulande habe der soziale Friede seinen Preis. Faßt man die Lage zusammen, ist ohne viel Übertreibung festzustellen: Die sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit in Europa, namentlich der vielzitierte Rheinische Kapitalismus, samt seinem extensiv ausgebauten Sozialstaat und der überbordenden Therapiekultur, waren Geschenke des Stalinismus – Früchte des Zorns, die allerdings nur nach ihrem Export in ein freieres Klima zu einer gewissen Süße reifen konnten.
Die Aufwendungen für den sozialen Frieden im Westen waren von Grund auf neu zu berechnen, als das Drohpotentialder Linken sich unaufhaltsam abschwächte – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß die Sowjetunion als Absender von Drohungen an die Adresse des Westens zunehmend weniger ernst zu nehmen war. Spätestens in der Endphase der Breschnew-Ära waren die Voraussetzungen für irgendeine Art erfolgreicher Missions- und Expansionstätigkeit von Moskau aus nicht länger gegeben. Auch der Maoismus bedeutete außerhalb Chinas nie mehr als ein Strohfeuer aus Bauernromantik in der Dritten Welt (man denke an Che Guevaras konfuse Ausflüge nach Afrika und Bolivien) und Wohlstandsverwahrlosung an westlichen Universitäten. Evident war ohnehin, daß der Osten – aufgrund seiner dogmatischen Ignoranz in der Eigentumsfrage – die Systemkonkurrenz unmöglich gewinnen konnte. Zudem lieferte die russische Armee in dem zehnjährigen vergeblichen Feldzug gegen die von den USA unterstützten afghanischen Freischärler (1979-1989) den Beweis, wie wenig sie ihrem einstigen Ruf noch gerecht zu werden vermochte.
Unter diesen Bedingungen büßten die Organe der Arbeitnehmerschaft im Westen ihr Privileg ein, von der Kommunismusangst der Kapitalseite ohne eigene Anstrengung zu profitieren. Für das liberal-konservative Lager wurde erkennbar: Man saß bei den Lohnrunden einem geschwächten, um nicht zu sagen einem zerfallenden Kontrahenten gegenüber. Dieser war zum einen durch seine relative Saturierung außer Form geraten, zum anderen einer schleichenden Lähmung erlegen, die sich aus der ideologischen Deflation des linken Lagers ergab.
Die Konsequenzen aus diesen Wahrnehmungen bestimmen die psychopolitische Atmosphäre des Westens von den frühen achtziger Jahren an bis heute – ihre Resultate addieren sich jetzt mit den
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