Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
klimawirksamen Niederschlägen des 11. September 2001 und lassen eine neoautoritäre Wende des Kapitalismus vor liberal-bellizistischem Hintergrund immer wahrscheinlicher werden. Es ist das Jahr 1979, das man ausheutiger Sicht als das Schlüsseldatum des späteren 20. Jahrhunderts bestimmen muß. In dreifacher Hinsicht beginnt damals der Eintritt in die post-kommunistische Situation: mit dem Anfang vom Ende der Sowjetunion nach dem Einmarsch ihrer Armee in Afghanistan, mit dem Regierungsantritt von Margaret Thatcher und mit der Konsolidierung der islamistischen Revolution im Iran unter Ayatollah Khomeini.
Was man Neoliberalismus nennt, war in der Sache nichts anderes als eine Neuberechnung der Kosten für inneren Frieden in den Ländern der kapitalistisch-sozialdemokratischen »Mischwirtschaft« europäischen Typs oder des »regulierten Kapitalismus« US -amerikanischer Machart. 27 Diese Prüfung führte unausweichlich zu dem Ergebnis, daß die westliche Unternehmerseite den sozialen Frieden unter vorübergehendem politischen und ideologischen Druck aus dem Osten zu teuer erkauft hatte. Man sah die Zeit für kostensenkende Maßnahmen gekommen, Maßnahmen, die ihrer Tendenz nach den Akzentwechsel vom Primat der Vollbeschäftigung zum Vorrang der Unternehmensdynamik bezweckten. Tatsächlich wurde ein regelrechter Umschwung des Zeitgeistes ausgelöst: Immer schneller entfernte er sich von der zugleich revoltischen und dirigistischen Komfortethik der Nachkriegsjahrzehnte (die nur in Frankreich überlebte), um einer neoentrepreneurialen Risikoethik den Vorzug zu geben – wobei man überzeugt war, die Entmutigung der neuen »Klasse« von nicht mehr Gebrauchten, Ausgemusterten und Abgespeisten als externen Kostenfaktor in Kauf nehmen zu können. Seither driften die Teilkulturen der Spaßpflege und der Depressionsbewirtschaftung im Inneren des europäischen Kristallpalasts stetig auseinander.
Wie präzise diese Diagnosen der Lage entsprachen und wie radikal die Konsequenzen ausfielen, die aus ihnen gezogenwurden, hat sich im Verlauf des Vierteljahrhunderts seit der von Joseph Keith konzipierten und von Margaret Thatcher ab 1979 durchgesetzten »Marktrevolution« Großbritanniens erwiesen (die alsbald auf den Kontinent und weite Teile der westlichen Welt übergriff, insbesondere auf Reagans, 1981-1988, und Clintons Amerika, 1993-2001). Am eklatantesten zeigt sich das an dem Dauertrend des Neoliberalismus – dem langen Marsch in die Massenarbeitslosigkeit, die in sozialpolitischer Sicht die Tonart gesetzt hat. Die neuen Verhältnisse brachten mit sich, was bis dahin kaum vorstellbar gewesen war: Arbeitslosenquoten von acht bis zehn Prozent und mehr werden von den Bevölkerungen der europäischen Nationen mehr oder weniger kampflos hingenommen – sogar die zunehmend spürbare Absenkung der sozialstaatlichen Leistungen vermochte bislang kein Aufflackern des klassenkämpferischen Feuers zu provozieren. Die Souveränitätsverhältnisse haben sich über Nacht umgekehrt: Nicht nur haben die Organisationen der Arbeitnehmerschaft wenig in der Hand, womit sie effektiv drohen könnten, da das Drohprivileg nahezu einseitig auf die Unternehmerseite übergegangen ist. Diese kann jetzt sogar ziemlich plausibel behaupten, es werde alles noch viel schlimmer kommen, falls die Gegenseite sich weigert, die neuen Spielregeln zu verstehen und mitzutragen.
Die dritte Sammlung: Kann der politische Islam eine neue Weltbank der Dissidenz einrichten?
Man muß sich dieses Szenario vor Augen halten, wenn man begreifen möchte, unter welchen Bedingungen der islamistische Terrorismus seinen Aufstieg als Faktor auf der Bühne der drohfähigen Mächte zelebrieren konnte. Zunächst schienen die Islamisten nicht mehr zu sein als freche Parasiten der post-kommunistischen Konstellation. Kein Menschwäre zur Zeit ihrer ersten Auftritte auf den Gedanken gekommen, hier formiere sich so etwas wie ein dritter Katholizismus oder eine orientalische Alternative zum Kommunismus. Nichtsdestoweniger gelang es den islamistischen Aktivisten, sich dem Westen der postbipolaren Ära, zuerst den USA , dann dem hilflosen Europa, quasi von einem Tag zum anderen als Feindsubstitut aufzudrängen. In dieser Rolle wurden sie von Anfang an ambivalent interpretiert. Für die tragischen Politologen, die von der Notwendigkeit, immer einen Feind zu haben, überzeugt sind, kam die Wut des Islamismus einem Geschenk des Himmels gleich. Obschon materiell zunächst nicht besonders
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