Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Rantisi jüngst verkündet, das kommende Jahrhundert werde das Jahrhundert des Islam sein, unterläuft ihm die zeitübliche Verwechslung von Kultur und Biomasse. Recht behalten könnte er nur in dem unwahrscheinlichen Fall, daß der islamischem Welt als ganzer in Kürze der Ausgang aus ihrer selbstverschuldeten Rückständigkeit gelänge. Wie dies vonstatten gehen könnte, davon haben selbst die wohlwollendsten Interpreten zur Stunde nur ohnmächtige Vorstellungen.
Betrachtet man die Entführung der beiden Flugzeuge, die am Morgen des 11. September 2001 in die Türme des World Trade Center in New York gesteuert wurden, im Kontext dieser Überlegungen, dann war sie keine Demonstration islamistischer Stärke, sondern das Symbol einer hämischen Mittellosigkeit, zu deren Kompensation allein die sakral maskierte Opferung von Menschenleben aufzubieten war. Kein Marx des politischen Islam wird je behaupten können, die moderne Technologie sei im Schoß der westlichen Zivilisation herangewachsen, werde aber erst in den Händen islamischer Benutzer zu ihrer vollen Bestimmung gelangen. Die Lehre des 11. September lautet, daß die Feinde des Westens sich alles nur von der rächerischen Umdrehung westlicher Werkzeuge gegen ihre Urheber versprechen. Der Islamophile Friedrich Nietzsche müßte heute seine Urteile modifizieren. Die Vorwürfe, die er in seinem Fluch auf das Christentum erhob, haben sich wie hinter seinem Rücken einem anderen Adressaten angepaßt. Der radikale Islamismus unserer Tage bietet das erste Beispiel einer puren rächerischen Ideologie, die nur strafen kann, aber nichts hervorbringt. 35
Die Schwäche des Islam als politischer Religion, sei sie moderat oder radikal ausgeprägt, gründet in ihrer passéistischen Grundorientierung. Seine Führer können bisher nichts anderes als untechnische, romantische, wutgetönte Konzepte für die Welt von morgen formulieren. Zweifellos sind mittels einer Rhetorik zorniger Grandiosität im kommenden Halbjahrhundert die anschwellenden Protestmassen des Vorderen und Mittleren Orients auf die Beine zu bringen. Als Mobilisator von thymotischen Rerserven gewaltigen Umfangs ist der Islamismus tatsächlich noch längst nicht ans Ende seiner Möglichkeiten gelangt. Der Traum der Aktivisten von einem islamischen Großimperium neumittelalterlichen Gepräges wird noch zahllose Mitträumer inspirieren, selbst wenn es an den politischen Voraussetzungen hierfür in jeder Hinsicht fehlt. Hingegen können aus den erwartbaren regionalen Reichsbildungen islamischer Staaten sich bestenfalls konventionelle Mittelmächte entwickeln. Daß sie exportfähige Kulturschöpfungen zustande bringen, die andernorts eine Libido der Nachahmung wecken, ist unwahrscheinlich, um nicht zu sagen unmöglich. Entscheidend für den Gang der Dinge bleibt die Tatsache, daß die Köpfe des Islamismus in ihrer heutigen Ausrichtung völlig außerstande sind, die nächsten Kapitel der kulturellen Evolution mitzugestalten oder gar vorzuschreiben, mögen ihre Herkunftsländer das »Siegesbanner der Fortpflanzung« 36 noch so stolz vor sich hertragen. Der Islam hat bisher wenig vorzuweisen, was ihn befähigte, die technologischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Existenzbedingungen für die Menschheit des 21. Jahrhunderts kreativ fortzubilden. Es wäre bereits eine titanische Leistung, sollte ihm die Modernisierung der eigenen Bestände in absehbarer Zeit gelingen. Sicher ist nur, daß er aus seinem dogmatischen Schlummer erwacht ist. Nach jahrhundertelanger Stagnation kehrt er auf die Weltbühne zurück – um verlegen zu entdecken, unfähig zu sein, an den kulturellen Großtaten des kosmopolitischen, moderaten undschöpferischen Islam bis zum 13. Jahrhundert anzuknüpfen. Es könnte hundert Jahre dauern, bis seine Vorsprecher weniger durch Drohungen als durch Leistungen von sich reden machen.
Für den Westen wird dies keine leere Wartezeit. Da in der islamischen Welt mehrere demographisch explosive Staaten mit Plänen für aggressive Reichspolitiken an der Rampe stehen – vor allem der Iran und Pakistan, in geringerem Maß auch Ägypten und Marokko –, wird man sich in den kommenden Jahrzehnten einer Reihe von inkohärenten, doch momentan verbündbaren Offensiven gegenübersehen, die an die halbmodernen Aufbruchsbewegungen zorniger Verlierer aus Italiens und Deutschlands unerfreulichster Zeit erinnern könnten.
Unter diesen Umständen sind die Erwartungen an den Islamismus als potentiellen Nachfolger des
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