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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Weg zur Umverteilung von Gütern im sozialdemokratischen oder sozialistischen Verständnis. Ihre wirkliche Bedeutung liegt darin, den Kapitalismus zu spalten, um den radikalsten Gegensatz zu ihm – und den einzig fruchtbaren – aus ihm selbst zu schaffen, ganz anders, als die klassische, vom Miserabilismus überwältigte Linke es sich träumen ließ.
    Nimmt man Marx beim Wort, war auch ihm das Motiv einer Kehre des Kapitalismus gegen sich selbst nicht fremd. Er hat, im Gegenteil, nie aufhören wollen zu glauben, daß erst die »Vollendung« der kapitalistischen Umwälzung aller Dinge, und nur sie, imstande wäre, eine neue Wirtschaftsweise aus sich herauszutreiben. Die Möglichkeit der Kehre, die Revolution heißt, wird im Bogen der Evolution selbst erzeugt. Die ganze Fatalität des Marxismus liegt in seiner Unentschiedenheit hinsichtlich der Frage, wieviel Zeit der kapitalistische Prozeß im ganzen braucht, um die Voraussetzungen für die postkapitalistische Umlenkung des Reichtums zu produzieren. Aus heutiger Perspektive ist evident, daß das große Match des Kapitals um 1914 allenfalls bis zur Halbzeit gespielt war. Ihm stand noch eine lange Serie von Steigerungen, Auseinandersetzungen und Sturmläufen bevor, weswegen es weit davon entfernt war, sich selbst zugunsten einer nachfolgenden Formation transzendieren zu können. Die Führer der russischen wie der chinesischen Revolutionen waren völlig im Unrecht, wenn sie sich auf Marxsche Theorien beriefen. Beide politische Unternehmen stellten Amalgame aus politischem Fundamentalismus und kriegerischem Opportunismus dar, durch die jeder Sinn für Wirtschaftserfolg, Evolution und Reihenfolge verlorenging. Während den Basistexten von Marx zufolge die postkapitalistische Situation nur als die reife Frucht des »zu Ende« entwickelten Kapitalismus vorgestellt werden durfte, haben Lenin und Mao aus dem Prinzip der terroristischen Ausnutzung unreifer Verhältnisse den Schlüssel zum Erfolg gemacht. Nach ihren Darbietungen ist evident geworden, was das Diktum vom »Primat der Politik« in radikaler Interpretation besagt.
    Man muß zugeben, daß das Konzept des »vollendeten Kapitalismus« für seine Interpreten voller Zumutungen steckt, heute nicht weniger als zu Marx’ und Lenins Zeiten. Es verlangt von seinen Benutzern einen Grad an Einsicht in die noch unrealisierten Potentiale der ökonomischen, technischen und kulturellen Evolution, den sie aus begreiflichen Gründen nicht erreicht haben können. Zudem fordert es von den Benachteiligten des Spiels ein Maß an Geduld, das aufzubringen ihnen unmöglich zuzumuten wäre, wenn sie wüßten, wohin für sie die Reise führt und wie lange sie dauert.So verwundert es nicht, wenn die Denkfigur »reife Verhältnisse« den Kommunisten über den Kopf wuchs, indem sie gerade dort die Revolution erzwangen, wo die Evolution ihre Arbeit kaum begonnen hatte und fruchtbare eigentumswirtschaftliche Verhältnisse noch auf ganzer Linie fehlten. Als Evolutionsbetrüger ohne Vorgänger versuchten sie sich an dem Kunststück, über den Kapitalismus hinauszugehen, ohne ihn gekannt zu haben. Die Flirts der Sowjets unter Stalin und der Chinesen in der Maozeit mit der beschleunigten Industrialisierung waren kaum mehr als ohnmächtige Bemühungen, den evolutionären Schein zu wahren. In Wahrheit war die Leninsche Wahl des revolutionären Moments von Anfang an rein opportunistisch motiviert – der Machiavellischen Lehre von der günstigen Gelegenheit gemäß –, und Mao Zedongs analoge Angriffe waren in noch höherem Maß voluntaristisch verzerrt.
    Übereilung blieb das Kennzeichen aller Initiativen, die von Revolutionären dieses Schlages im Namen einer nachkapitalistischen Zukunft ausgingen. Wo
     aus sachlogischen Gründen mit Jahrhunderten zu rechnen gewesen wäre, wurden ohne jedes zureichende Motiv – da Ungeduld und Ambition nie genügen – nur
     wenige Jahrzehnte in die historischen Rechnungen eingesetzt, bei den Ultras sogar nur wenige Jahre. Die verzerrte Optik, mit welcher der revolutionäre
     Wille seine Pläne rechtfertigte, ließen das kriegerische Chaos, das postzaristische in Rußland, das nachkaiserliche in China, wie eine jeweils »reife
     Situation« erscheinen. Tatsächlich produzierte der Kommunismus nicht eine postkapitalistische, sondern eine postmonetäre Gesellschaft, die, wie Boris
     Groys gezeigt hat, das Leitmedium Geld aufgab, um es durch die reine Sprache des Kommandos zu ersetzen, hierin einer orientalischen

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