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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Engels verknüpft, der über dreißig Jahre hin die nicht allzu üppigen Überschüsse aus seiner Fabrik in Manchester verwendete, um die Familie Marx in London über Wasser zu halten, indessen deren Vorstand die Zuwendungen benutzte, um die Ordnung der Dinge zu verwerfen, in der ein Engels möglich und nötig war. Wie dem auch sei, die Großzügigkeit der Geber läßt sich nicht auf den Liberalismus der »kleinen Taten« reduzieren, wie er für bürgerliche Reformansätze bezeichnend war. Es wäre gleichfalls unangebracht, solche Gesten als Paternalismus abzufertigen. In ihnen wird eher der metakapitalistische Horizont erkennbar, der sich abzeichnet, sobald sich das Kapital gegen sich selber kehrt.
    »Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das.« 36 Als Nietzsche dieses Bonmot notierte, ließ er sich wohl zu sehr von den antiliberalen Klischees seiner Zeit bestimmen. Was den Aphorismus trotzdem bedeutend macht, ist der Umstand, daß er an eine Zeit erinnert, in der der Widerstand gegen die Propaganda der Erotisierung und Vulgarisierung sich auf die heute fast vergessenen Regungen des Stolzes und des Ehrgefühls berufen konnte. Sie brachten eine Kultur der Generosität mit bürgerlichem Antlitz hervor – ein Phänomen, das in den Zeiten der anonymen Fonds zunehmend verschwindet. Beschränken wir uns auf die Feststellung, wonach der thymotische Gebrauch des Reichtums in der angelsächsischen Welt, vor allem in den USA , zu einer gesicherten zivilisatorischen Tatsache hat werden können, während er auf dem europäischen Festland, aufgrund von staatsgläubigen, subventionistischen und miserabilistischen Traditionen, bis heute nie wirklich heimisch werden wollte.

Die post-kommunistische Situation
    Eine abschließende Bemerkung zur »geistigen Situation der Zeit« soll die strategische Perspektive der folgenden Ausführungen offenlegen – man hätte es früher ihr Engagement genannt. Sie plazieren sich in einer Debatte, die seit Beginn der neunziger Jahre die intellektuelle Öffentlichkeit des Westens bewegt. Es geht dabei, um es kurz zu sagen, um die moralische und psychopolitische Interpretation der nachkommunistischen Situation.
    Deren Eintreten hat das politische Denken der Zeitgenossen von 1990 zumeist völlig unvorbereitet getroffen. Fast überall hatten die politischen Interpreten der Nachkriegszeit sich damit begnügt, die vom Sieg der Alliierten über die NS -Diktatur geschaffene Weltlage in den herkömmlichen Begriffen ihres Fachs zu kommentieren. Auf breiter Front bekannte man sich zu Demokratie und Marktwirtschaft und ließ den alten Kameraden das karge Vergnügen, von Zeit zu Zeit ihre antifaschistischen Orden aus dem Schrank zu holen. Während dieser langen (von nuklearen Drohungen überschatteten) belle époque herrschte die Meinung vor, mit der »Aufarbeitung« der totalitären Exzesse in Europa sei das zeitdiagnostische Pensum erfüllt – im übrigen müsse man zusehen, wie die liberale Zivilisation, unter Mitwirkung sozialdemokratischer Korrektive, die historischen Forderungen nach einer besseren Welt mit ihren Mitteln aufgriffe. Kaumjemand besaß die theoretischen Mittel und moralischen Antriebe, über die Verhältnisse der bipolaren Ära hinauszudenken. Die Implosion der realsozialistischen Hemisphäre hat nun nicht bloß deren eigene Ideologien und Apparate zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen lassen, sie hat mehr noch den »siegreichen« Kapitalismus in die Verlegenheit gebracht, praktisch allein Weltverantwortung übernehmen zu müssen. Man kann nicht behaupten, die westlichen Denker hätten sich von dieser Konstellation zu außergewöhnlich kreativen Antworten provozieren lassen.
    Der Leser muß wenig Scharfsinn aufwenden, um zu erkennen, daß manche Themen und Motive des vorliegenden Versuchs aus einem imaginären Dialog mit Francis Fukuyamas Buch The End of History and the Last Man aus dem Jahr 1992 entspringen. Ich mache kein Geheimnis aus meiner Ansicht, diese Publikation gehöre – trotz ihrer leicht zu entdeckenden kritikwürdigen Aspekte – zu den wenigen Arbeiten der zeitgenössischen politischen Philosophie, die an den Nerv der Epoche rühren. Sie hat bewiesen, daß akademisches Denken und Geistesgegenwart sich nicht immer gegenseitig ausschließen. Neben den jüngeren Arbeiten von Boris Groys, in denen sich ein neuer Horizont von Zeitdiagnose artikuliert, 37 vertritt sie das bis auf weiteres am besten durchdachte System von Aussagen zur post-kommunistischen

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