Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Weltlage – und zur politischen Anthropologie der Gegenwart. In meinen Augen hat der Weltlauf seit 1990 im großen und ganzen Fukuyamas (und implicite Alexandre Kojèves) Ansatz bestätigt, nach welchem das Verständnis der gewachsenen Weltlage von der Einsicht in den Stand der Kämpfe um Anerkennung abhängt. Daß sich der Autor im übrigen selber dem Lager der Konservativen in den USA zurechnet, legt den Leser keineswegs auf solche Perspektivenfest. Die progressiv deutbaren Gehalte seines Werks treten zutage, sobald man sich die Mühe macht, den konservativen Schleier über ihnen beiseite zu schieben, indessen die mehr oder weniger absichtlichen Fehllektüren ohnehin keinen Kommentar verdienen.
Unter den Interpreten, die Fukuyamas Versuch über die post-kommunistische Situation eine hohe Bedeutung beimaßen, kommt Jacques Derrida begreiflicherweise eine herausragende Rolle zu. In dem aufschlußreichsten seiner politischen Bücher, Marx’ Gespenster , hat der Erfinder der »Dekonstruktion« sich auf intensive, obschon überwiegend skeptische, gelegentlich polemische Weise mit den Thesen von The End of History auseinandergesetzt. 38 In einer faszinierenden Rekonstruktion von Fukuyamas Entwurf – faszinierend nicht zuletzt, weil Derrida hier tatsächlich nicht dekonstruktiv argumentiert, sondern eine Verbesserung des Arguments versucht – meint er nachweisen zu können, man habe es bei dem Buch mit einer etwas übereilten Neuauflage der von Hegel zum Gebrauch des modernen Staats umgeschriebenen christlichen Eschatologie zu tun. Solche Erzählungen ad hoc , gibt Derrida zu bedenken, dienen vor allem dazu, das Verlangen nach einem glücklichen Ende unglücklicher Geschichten zu befriedigen. Tatsächlich habe Fukuyamas Buch aufgrund seines neoevangelischen Tons zu einem medialen gadget werden können, das mehr oder weniger mißverstanden um die Welt lief, ohne daß man je zu seiner wirklichen Problematik durchgedrungen wäre. Worauf es bei einem seriösen Diskurs über das »Ende der Geschichte« ankäme, wäre die Durchleuchtung der ungeklärten Beziehung der säkularen und technologischen Zivilisation des Westens zu den drei messianischen Eschatologien, die aus dem religiösen Denken des Nahen Ostens hervorgingen – der jüdischen, der christlichen, der islamischen. Indieser metaphysischen Wetterecke der Welt werde bezeichnenderweise immer noch über den Sinn des Weltlaufs und die spirituelle Orientierung der Politik im großen gestritten. »Der Krieg um die Aneignung von Jerusalem ist heute der Weltkrieg. Er findet überall statt, er ist die Welt …« 39 Was gegen Fukuyama einzuwenden sei, ist letztlich, Derrida zufolge, seine undurchschaute einseitige Abhängigkeit von den Gewohnheiten der christlichen Messianologie: Bekanntlich wird der Messias von den Christen seit jeher als ein gekommener aufgefaßt, wogegen Derrida den Akzent auf die jüdische Haltung des Wartens auf den noch nicht gekommenen legt. Eine analoge Relation kehrt bei den politischen Erzählungen von der Errichtung der Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft wieder. Während der Interpret der erfolgreichen liberalen Zivilisation sich in dem Glauben wiegt, von der eingetretenen Gegenwart der Demokratie sprechen zu dürfen, beharrt sein Kritiker auf der Ansicht, von Demokratie könne immer nur als kommender und künftiger die Rede sein.
So inspirierend Derridas Kommentare zu The End of History auch sein mögen: Legt man Fukuyamas Buch und Derridas Kommentar nebeneinander, springt ins Auge, daß Derrida es ohne Angabe von Gründen unterlassen hat, den ernsthaftesten Teil von Fukuyamas Versuch, die reaktualisierte Thymotologie, einer angemessenen Überprüfung zu unterziehen. Er begnügt sich mit der kurzen Bemerkung, Fukuyama habe die Rede vom thymós und von der megalothymía (dem menschlichen Anspruch auf Stolz und Größe) als spiritualistisches Gegengewicht gegen die Einseitigkeiten des marxistischen Materialismus ins Feld führen wollen – was, vorsichtig ausgedrückt, eine selektive Lektüre bezeugt. Man kommt somit nicht umhin festzustellen, daß selbst einem eminenten Leser wie Derrida die Pointe des Werks entging, das (auf den Spuren von Alexandre Kojève und Leo Strauss) nicht weniger intendiert als die Wiedergewinnung einer authentischen politischen Psychologie auf den Grundlagen der wiederhergestellten Eros-Thymos-Polarität. Es liegt auf der Hand, daß eben diese politische Psychologie (die wenig mit der sogenannten
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