Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
»Massenpsychologie« und anderen Anwendungen der Psychoanalyse auf politische Objekte zu tun hat) durch den Gang der Dinge ins Zentrum des aktuellen Bedarfs an neuen theoretischen Orientierungen gerückt wurde.
Niemand, der etwas von den Spielregeln der Literaturkritik versteht, wird sich wundern, wenn Fukuyamas Buch bei seinen europäischen Rezensenten aufs Ganze gesehen wenig Glück hatte. Man wollte es zumeist als einen zu lang geratenen Siegesschrei des Liberalismus nach der Implosion der Sowjetunion und dem Verschwinden der »sozialistischen Alternative« verstehen. Dem Autor wurde unterstellt, er liefere mit seiner These vom Ende der Geschichte nur eine aktualisierte Version der Yankee-Ideologie, nach welcher der american way of life die Vollendung der Menschheitsevolution bedeute – von der Savanne zur Shopping Mall, vom Faustkeil zum Stimmzettel, vom Stammesfeuer zum Mikrowellenherd. Seither ist der spöttische Bezug auf Fukuyamas Titel zu einem running gag des politischen Feuilletons in Europa geworden. Viele Beiträger werden nicht müde zu wiederholen, die Geschichte sei in Wahrheit natürlich nicht zu Ende und der siegreiche Westen dürfe sich nach seinem Etappenerfolg im Kampf gegen die ideologischen Ungeheuer nicht ausruhen – was übrigens völlig richtig ist, jedoch ganz anders zu verstehen wäre, als die betreffenden Autoren meinen.
Ich will mich nicht bei der Beobachtung aufhalten, daß diese Einwände regelmäßig im Ton einer neo-realistischen Häme vorgebracht werden, als genössen die Kommentatoren ein Gefühl von Überlegenheit, sobald sie einen philosophischenAutor beim Verkünden scheinbar naiver Botschaften überraschen. Auch der anti-intellektuelle Affekt bei Fukuyamas Verächtern sei beiläufig notiert, und wenn sich die Historiker dagegen wehren, von einem Philosophen arbeitslos gemacht zu werden, ist das nicht völlig unverständlich. In Wahrheit hat der Autor die Sorgen und Einwände seiner Kritiker in den wesentlichen Punkten vorweggenommen. Im Schlußkapitel seines Buches, das ominös Der letzte Mensch überschrieben ist, geht er mit eindrucksvoller Sensibilität der Frage nach, ob die momentan erfolgreiche liberale Demokratie wirklich imstande sei, allen ihren Bürgern die völlige Befriedigung ihrer intellektuellen und materiellen Bedürfnisse zu bieten. Seine Antwort ist die eines skeptischen Konservativen, der weiß: Es existieren Widersprüche »im Kern unserer liberalen Ordnung«, die fortbestehen, »auch wenn der letzte faschistische Diktator, der letzte größenwahnsinnige General und der letzte kommunistische Parteifunktionär vom Angesicht der Erde verschwunden« wären. 40
Die zeitdiagnostische Lektion, die sich in The End of History verbirgt, ist also nicht von dem Titelslogan abzulesen, der, wie bemerkt, nur eine
geistreiche Auslegung der Hegelschen Philosophie durch Alexandre Kojève aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts zitiert (welcher seinerseits das
»Ende der Geschichte« auf das Erscheinungsjahr der Phänomenologie des Geistes 1807 datiert hatte). Sie besteht in einer aufmerksamen Beobachtung
der Prestige- und Eifersuchtskämpfe zwischen Bürgern der freien Welt, die gerade dann in den Vordergrund treten, wenn die Mobilisierung der zivilen Kräfte
für Kämpfe an äußeren Fronten aufgehört hat. Erfolgreiche liberale Demokratien, erkennt der Autor, werden aufgrund ihrer besten Leistungen immer von
Strömen frei flottierender Unzufriedenheit durchzogen sein. Dies kann nicht anders sein, weil Menschen zu thymotischerUnruhe verurteilt sind, und »letzte Menschen« mehr als alle übrigen, obschon die Massenkultur der Nachgeschichte zunächst ganz im Zeichen der Erotik steht. Ihre Ambitionen sind ebenso wenig zu sedieren wie – im Falle des größeren Erfolgs anderer – ihre Ressentiments.
Sind die physischen Schlachten geschlagen, brechen die metaphorischen Kriege auf. Zu diesen kommt es unvermeidlich, weil die summarische Befriedungsmaßnahme der liberalen Welt: die gegenseitige Anerkennung aller durch alle als gleichberechtigte Mitbürger des Gemeinwesens, in Wahrheit viel zu formal und unspezifisch bleibt, um den Einzelnen den Zugang zum glücklichen Bewußtsein zu eröffnen. Auch und vor allem in einer Welt breitgestreuter Freiheiten können Menschen nicht aufhören, nach den spezifischen Anerkennungen zu streben, die sich in Prestige, Wohlstand, sexuellen Vorteilen und intellektueller Überlegenheit manifestieren. Da solche Güter
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