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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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unter allen Umständen knapp bleiben, sammelt sich im liberalen System bei den unterlegenen Wettbewerbern ein großes Reservoir an Mißgunst und Verdrossenheit an – um von den wirklich Benachteiligten und den de facto Ausgeschlossenen nicht zu reden. Je mehr die »Gesellschaft« in ihren Grundzügen befriedet ist, desto farbiger erblüht die Eifersucht aller gegen alle. Sie verwickelt die Kandidaten auf bessere Plätze in Kleinkriege, die sämtliche Lebensaspekte durchdringen. Gleichwohl besitzt das System der »offenen Gesellschaft« den Vorzug, daß in ihm auch die dunkleren Energien Arbeitsplätze schaffen. Der Neid generiert unaufhörlich alternative Vorzugsstellungen, besonders in dem sich täglich breiter ausdifferenzierenden Kultur- und Mediensektor. Auch der Sport ist als ein expansives System von Sieg-und Prominenzchancen für die Stimulierung und Kanalisierung postmoderner Ambitionsüberschüsse unentbehrlich geworden. Aufs Ganze gesehen läßt sich sagen: In den unstillbaren Prestigekämpfen der Nachgeschichte emergieren fortlaufend Eliten aus Nicht-Eliten. Ist eine Öffentlichkeitvom Ausdrucksleben zahlloser Akteure beherrscht, die nicht wirklich oben sein können und doch weit nach vorn gekommen sind, dann darf man sicher sein, es handelt sich um eine florierende Demokratie.
    Die alte Welt kannte den Sklaven und den Unfreien – sie waren die Träger des unglücklichen Bewußtseins ihrer Zeit. Die Moderne hat den Verlierer erfunden. Diese Figur, der man auf halbem Weg zwischen den Ausgebeuteten von gestern und den Überflüssigen von heute und morgen begegnet, ist die unverstandene Größe in den Machtspielen der Demokratien. Nicht alle Verlierer lassen sich durch den Hinweis beruhigen, ihr Status entspreche ihrer Plazierung in einem Wettbewerb. Viele werden entgegenhalten, sie hätten nie eine Chance gehabt, mitzuspielen und sich danach zu plazieren. Ihre nachtragenden Gefühle richten sich nicht bloß gegen die Gewinner, sondern auch gegen die Spielregeln. Daß der Verlierer, der zu oft verliert, das Spiel als solches gewaltsam in Frage stellt: Diese Option macht den Ernstfall von Politik nach dem Ende der Geschichte sichtbar. Der neue Ernstfall stellt sich aktuell unter zwei Erscheinungsformen dar: in den liberalen Demokratien als postdemokratische Ordnungspolitik, die sich als Rückbildung von Politik zu Polizei und als Umwandlung von Politikern zu Agenten des Verbraucherschutzes äußert; in den gescheiterten Staaten als Bürgerkrieg, in dem Armeen aus kräftigen Überflüssigen sich gegenseitig dezimieren. 41
    Inzwischen zeigt sich, daß es nicht nur die »Widersprüche« im Kern des eigenen Systems sind, die der politischen Kultur des Westens und seiner Filialzivilisationen im Osten und Süden in der post-kommunistischen Situation zu schaffen machen: Es sind die neuen Sammlungsbewegungen der kampfbereiten Unzufriedenen und der energischen Überflüssigen, es sind die rapiden Vernetzungen des Verliererhasses, die unterschwelligen Proliferationen der Sabotage- und Zerstörungsmittel, die für die Wiederkehr des historischen Schreckens und der entsprechenden Hoffnungen zu sorgen scheinen. Vor dem Hintergrund solcher Phänomene sind die zahllosen Traktate über die »Rückkehr« oder den »Wiederbeginn« der Geschichte zu begreifen, die seit einigen Jahren den Essaymarkt des Westens überschwemmen. Der gemeinsame Nenner solcher Zeitkommentare liegt in der mechanischen Unterstellung, mit den Gewaltausbrüchen auf den globalen Bühnen sei ein Neustart der nur vorübergehend lahmenden »Geschichte« verbunden. Unverkennbar handelt es sich hierbei um einfältige Versionen von Hegelianismus: Wenn nämlich die bisherige Geschichte durch kämpfende Oppositionen vorangetrieben wurde, wie es die popularisierte Dialektik unterstellt, so darf man vom Erscheinen neuer Kämpfer auf den Fortgang der Geschichte schließen.
    Gegenüber dieser Literatur soll klargestellt werden: Das gleichzeitige Auftauchen des Terrorismus im Außenverhältnis der westlichen Zivilisation und einer neuen sozialen Frage in ihren Innenverhältnissen darf gerade nicht als Indiz für eine »Rückkehr« der Geschichte verstanden werden. Der modus vivendi des Westens und seiner Filialkulturen ist in den wesentlichen Punkten tatsächlich nachgeschichtlich in einem technischen Sinn (das heißt: formal nicht mehr am Epos und an der Tragödie orientierbar; pragmatisch nicht mehr auf den Erfolgen des unilateralen Aktionsstils aufzubauen) –

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