Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Belästiger, ja ihre virtuellen Henker in Lehrbücher der Sprengstoffchemie, entliehen aus den öffentlichen Bibliotheken des Gastlandes. Hat man den Alarm einmal auf sich wirken lassen, wird einem zumute, als habe man den Vorspann zu einem beklemmenden Dokumentarfilm vor Augen. Das Harmlose und sein Gegenteil werden von einer effektbewußten Regie zu einer perfide eindrücklichen Sequenz hintereinandergeschnitten. Die vorbeigleitenden Bilder verlangen keinen Kommentar: Die neuen Väter öffnen Konserven für ihre Kleinen, die tüchtigen doppelbelasteten Mütter schieben die Pizza in den vorgeheizten Ofen, die Töchter schwärmen in die Stadt, um ihre erwachende Weiblichkeit zur Geltung zu bringen. Hübsche Schuhverkäuferinnen treten während einer ruhigen Minute mit einer Zigarette vor die Ladentür und erwidern die Blicke der Passanten. In den Vorstädten schnallen sich versteinerte Gaststudenten den Sprengstoffgürtel um.
Die Montage solcher Szenen folgt einer ohne Mühe nachvollziehbaren Logik. Nicht wenige Autoren, die sich zumpolitischen Erzieher berufen fühlen, darunter neukonservative Leitartikler, politische Antiromantiker, zornige Exegeten des Realitätsprinzips, Spätkatholiken und ekelbewegte Konsumismuskritiker, möchten einer Population von überentspannten Bürgern, wie bemerkt, die Grundbegriffe des Realen wieder nahebringen. Zu diesem Zweck zitieren sie die jeweils jüngsten Beispiele blutigen Schreckens. Sie zeigen, wie der Haß in die zivilen Standardsituationen eindringt, und werden nicht müde zu behaupten, unter den wohlgeordneten Fassaden treibe der Amok längst wieder sein Unwesen. Dabei müssen sie fortwährend rufen: Dies ist keine Übung!, denn seit geraumer Weile hat sich das Publikum an die routinemäßige Übersetzung von Realgewalt in bloße Bilder gewöhnt, unterhaltsame und erschreckende, plädierende und informative. Es nimmt die entgegengesetzte Bewegung ungläubig wahr wie den geschmacklosen Rückfall in einen seit vielen Jahren ausgestorbenen Dialekt.
Doch wie kann man den Zorn und seine Projekte, seine Proklamationen und Explosionen im Ernst als Neuigkeiten präsentieren? Was mußte alles mutwillig vergessen werden, ehe die Neigung aufkam, Menschen, die an ihren vermeintlichen oder wirklichen Feinden effektvoll Rache nehmen, wie Besucher aus äußeren Galaxien anzustarren? Wie konnte überhaupt die Meinung sich durchsetzen, man sei seit dem Verschwinden des Ost-West-Gegensatzes nach 1991 in ein Universum katapultiert worden, in dem die Menschen, als einzelne wie in den Kollektiven, ihre Begabung zu nachtragenden Gefühlen ablegten? Ist nicht das Ressentiment, noch vor dem bon sens , die am besten verteilte Sache der Welt?
Von mythischen Tagen an ist es populäre Weisheit, daß der Mensch das Tier ist, das mit vielem nicht fertig wird. Nietzsche würde sagen, es ist am Menschen als solchem etwas Deutsches. Er kann manche Gedächtnisgifte nicht ausscheiden und leidet unter eingebrannten Erfahrungen einer gewissenunerfreulichen Art. Die Redensart, die Vergangenheit wolle manchmal nicht vergehen, hält die alltägliche Version der anspruchsvolleren Einsicht fest, wonach die menschliche Existenz zunächst nichts anderes ist als die Spitze eines kumulativen Gedächtnisses. Erinnerung bedeutet nicht bloß die spontane Leistung des inneren Zeitbewußtseins, das dem sofortigen Wegsinken des gelebten Augenblicks mittels »Retention«, sprich der inneren automatischen Festhaltefunktion des Zeitbewußtseins, für eine Weile entgegenwirkt; sie ist auch mit einer Speicherfunktion verbunden, die das Zurückkommen auf nicht-aktuelle Themen und Szenen möglich macht. Schließlich ist sie auch ein Resultat von Knotenbildungen, durch die sich das jeweils neue Jetzt zwanghaft und suchthaft in ältere Schmerzschleifen einfädelt. Den Neurosen und den nationalen Empfindlichkeiten sind solche Bewegungen im Rundkurs des Traumas gemeinsam. Von Neurotikern weiß man, daß sie bevorzugt immer wieder in derselben Kurve verunglücken. Nationen schließen die Erinnerung an ihre Niederlagen in Kultstätten ein, zu denen die Bürger periodisch pilgern. Gedächtniskulten jeglicher Art, gleichgültig, ob sie religiös, zivilisatorisch oder politisch eingekleidet auftreten, muß man daher mit Mißtrauen begegnen, und zwar ausnahmslos: Unter dem Vorwand des reinigenden, befreienden oder auch nur identitätsstiftenden Eingedenkens leisten sie unweigerlich irgendeiner verheimlichten Tendenz zur Wiederholung und
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