Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
theologisch-psychosemantische Operation, bei welcher die altehrwürdig-grauenvollen Rachegöttinnen, die Erinnyen, in die Eumeniden, die Wohlmeinenden oder Schöngesinnten, umbenannt werden. Die Tendenz der Namensumwandlung ist unmißverständlich: Wo Rachezwang war, soll ausgleichend besonnene Gerechtigkeit werden.
Man kann die Bibliotheken der alten Welt unter allen möglichen Kriterien durchsuchen; man wird eine Fülle von Hinweisen auf die Elementarmacht des Zorns und die Feldzüge des rächerischen Furors finden, von Spuren eines halbernsten Spiels mit dem rache-romantischen Feuer entdeckt man wenig oder nichts. Genau dieses Spiel wird vom 18. Jahrhundert an in der entstehenden Kultur des Bürgertums zu einem tonangebenden Motiv, als habe der Zeitgeist selbst beschlossen, der Moment sei gekommen, die rächerischen Träume der Menschheit neu zu deuten. Seither jagt unter der fiebrigen Anteilnahme des Publikums ein großer Rächer den anderen auf den Bildschirmen des modernen Imaginären: vomedlen Räuber Karl Moor bis zum wütenden Veteranen John Rambo, von Edmond Dantès, dem geheimnisvollen Grafen von Monte Christo, bis zu Harmonika, dem Helden von Spiel mir das Lieb vom Tod , der sein Leben einer privaten Nemesis verschrieben hat, von Juda Ben Hur, der sich am Geist des imperialen Rom mit seinem Sieg in dem ominösen Wagenrennen revanchierte, bis zu The Bride alias Black Mamba , der Protagonistin von Kill Bill , die ihre Tötungsliste abarbeitet. Die Zeit derer hat begonnen, die für die »große Szene« leben. 3 Kommt Dürrenmatts alte Dame zu Besuch, weiß sie genau, wer von den alten Bekannten auszulöschen ist. Brechts träumerische Seeräuber-Jenny kennt auf die Frage, wer sterben soll, noch eine bessere Antwort: alle.
Geschichten dieses Typs haftet eine natürliche Balladenhaftigkeit an. Von sich her scheinen sie nach gehobener Rezitation und epischer Ausführlichkeit zu verlangen. Indem die jüngeren großen Rachehandlungen den Zusammenhang zwischen erlittenem Unrecht und gerechter Vergeltung sichtbar machen, liefern sie Anschauungsunterricht für einen Begriff von Schicksalskausalität, auf den auch die Modernen ungern verzichten, sosehr sie im übrigen der praktischen Aufklärung, also der Suspension von blinden Verhängnissen, zustimmen. Die gut gebaute Rachegeschichte bietet das Erhabene für das Volk. Sie gibt dem Publikum eine kompakte Formel für moralische Wenn-dann-Zusammenhänge an die Hand, selbst um den Preis einer Außerkraftsetzung des langsamen förmlichen Rechts zugunsten einer zügigeren Vergeltung. Sie befriedigt zudem das populäre Interesse an Akten, für die der Täter Stolz empfinden darf: Solche Geschichten beobachten den Rächer, die Rächerin beim direkten Heimzahlen einer Kränkung und lösen somit einen Teil des Unbehagens in der Rechtskultur auf. Sie führen den genugtuenden Beweis, daß moderne Menschen nicht immer nur die krummen Wege desRessentiments und die steilen Stufen des Rechtswegs gehen müssen, um ihre thymotischen Regungen zu artikulieren. Bei Kränkungen, die krank machen, ist Rache doch die beste Therapie. Diese Empfindung bildet den Grund des Vergnügens an niederträchtigen Gegenständen.
Die gefährlichen Liaisons zwischen dem Rachemotiv und der populären Erzählung brauchen hier nicht im Detail ausgebreitet zu werden. Sie reichen offensichtlich so tief, daß sich gelegentlich sogar die Rückkehr der modernen Kunst zur großen epischen Form anbietet – wie sie sich in dem schon erwähnten Jahrhundertœuvre des erzählenden Films Spiel mir das Lied vom Tod manifestiert. Man hat zu Recht bemerkt, die Filmkunst habe mit diesem Werk zwei Beweise für vormals unmöglich Scheinendes geliefert – zum einen für ihre Fähigkeit, sich die ernste Oper anzueignen, zum anderen für ihre Entschlossenheit, dem verlorenen Epos noch einmal eine zeitgenössische Form zu geben.
Die Affinität zwischen Rache und populären Erzählformen wäre an zahllosen Dokumenten neueren Datums zu erläutern. Unter diesen besitzt – um ein Exempel zu geben – die pittoreske Lebensgeschichte der indischen Rebellin Phoolan Devi (1968-2001) erhellenden Charakter. Die aus dem Bundesstaat Uttar Pradesh stammente Phoolan wurde schon als sehr junge Frau zur Hauptdarstellerin eines im ganzen indischen Subkontinent mit Spannung rezipierten Real-Dramas: Nachdem sie von ihrem brutalen Ehemann und anderen männlichen Dorfbewohnern, namentlich Polizisten, kollektiv mißhandelt und vergewaltigt
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