Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Re-Inszenierung Vorschub.
Schon die volkstümliche Viktimologie ist über die Reaktionen der Verletzten einigermaßen im Bilde. Durch schlimme Erlebnisse werden sie aus der glücklich-vergeßlichen Mitte an die abschüssigen Ränder versetzt, von denen es keine einfache Rückkehr zur Normalität mehr gibt. Man versteht die exzentrische Dynamik ohne weiteres: Den Opfern von Unrecht und Niederlagen erscheint der Trost im Vergessen nicht selten unerreichbar, und wenn unerreichbar, dann auchunerwünscht, ja unannehmbar. Daraus folgt, daß sich der Furor des Ressentiments von dem Augenblick an regt, in dem der Gekränkte beschließt, sich in die Kränkung fallen zu lassen, als ob sie eine Auserwählung sei. Den Schmerz übertreiben, um ihn erträglicher zu machen; sich aus der Depression des Leidens aufwerfen in den »Elendsübermut« – um Thomas Manns sensibel-humoristische Prägung über den Erzvater Jaakob zu zitieren; 1 das Gefühl erlittenen Unrechts zum Gebirge auftürmen, um sich im bitteren Triumph auf seinen Gipfel zu stellen – solche eskalierenden und verdrehenden Bewegungen sind so alt wie das Unrecht, das seinerseits so alt scheint wie die Welt. Ist nicht »Welt« ein Name für einen Ort, an dem Menschen unvermeidlich Erinnerungen der unerfreulichen Art anhäufen, Erinnerungen an Verletzungen, Beleidigungen, Kränkungen und alle möglichen Episoden, bei denen man nachträglich die Faust ballen möchte? Und sind nicht alle Kulturen, offen oder verdeckt, auch immer Archive kollektiver Traumata? Aus Überlegungen wie diesen darf man den Schluß ziehen, daß Maßnahmen zur Löschung oder Eindämmung schwelender Leidenserinnerungen zu den Klugheitsregeln jeder Zivilisation gehören müssen. Wie können die Bürger ruhig zu Bett gehen, wenn nicht zuvor zum couvre-feu für die inneren Feuer gerufen wurde?
Da Kulturen also immer Systeme der Wundversorgung anbieten müssen, legt es sich nahe, Begriffe zu entwickeln, die das gesamte Spektrum der Wunden überspannen, die sichtbaren wie die unsichtbaren. Dies haben die modernen Trauma-Wissenschaften geleistet, die von der Einsicht ausgehen, daß auch für moralische Gegenstände physiologische Analogien in Grenzen nützlich sind. Bei offenen körperlichen Verletzungen – um an Bekanntes zu erinnern – kommt Blut mit Luft in Berührung, woraufhin biochemische Reaktionen zur Blutgerinnung führen. Hierdurch wird ein bewundernswerter Prozeß somatischer Selbstheilung ausgelöst, der zum alten animalischen Erbe des Menschenkörpers gehört. Bei moralischen Verletzungen, könnte man sagen, kommt die Seele mit der gewollten oder ungewollten Grausamkeit anderer Agenten in Berührung – und auch in solchen Fällen sind subtile Mechanismen mentaler Wundheilung abrufbar – zu ihnen gehören der spontane Protest, die Forderung, den Verletzer sofort zur Rechenschaft zu ziehen, oder, falls dies nicht möglich ist, der Vorsatz, sich zu gegebener Zeit Genugtuung zu verschaffen. Daneben gibt es den Rückzug auf sich selbst, die Resignation, die Umdeutung der Szene zu einer Prüfung, das Nichtwahrhabenwollen des Geschehenen und am Ende, wenn nur noch eine psychische Roßkur zu helfen scheint, die Verinnerlichung der Verletzung als unbewußt verdiente Strafe, bis hin zur masochistischen Anbetung des Aggressors. Zusätzlich zu dieser Hausapotheke für das gekränkte Selbst haben der Buddhismus, der Stoizismus und das Christentum moralische Übungen entwickelt, mit deren Hilfe die verletzte Psyche befähigt werden soll, den Kreislauf von Kränkung und Rache insgesamt zu transzendieren. 2 Solange die Geschichte die endlose Pendelbewegung von Schlag und Gegenschlag bedeutet, ist es Weisheit, das Pendel zum Stehen zu bringen.
Nicht allein die Alltagsweisheit und die Religion haben sich der moralischen Wundheilung angenommen. Auch die Zivilgesellschaft stellt symbolische Therapien bereit, um die psychischen und sozialen Reaktionen der einzelnen wie der Kollektive auf Verletzungen zu unterstützen. Seit alten Zeiten sorgt die Einrichtung von Gerichtsverfahren dafür, daß den Opfern von Gewalt und Unrecht Wiedergutmachungen vor versammeltem Volk in Aussicht gestellt werden. Mittels solcher Prozeduren wird die stets prekäre Umwandlung vonRacheaufwallungen in Gerechtigkeit geübt. Wie es jedoch die eiternde Wunde gibt, durch die das Übel chronisch und generell wird, so auch die psychische und moralische Wunde, die sich nicht schließt und eine eigene verdorbene Zeitlichkeit erzeugt –
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