Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
die schlechte Unendlichkeit der unerledigbaren Beschwerde. So entsteht der Prozeß ohne genugtuendes Urteil, der im Kläger die Empfindung hervorruft, das ihm zugefügte Unrecht werde auf dem Verfahrensweg noch vergrößert. Was tun, wenn der Rechtsweg als der Irrweg erfahren wird? Läßt sich die Sache mit dem Sarkasmus erledigen, die Welt werde eines Tages auf dem Amtsweg untergehen – ein Spruch, der immer neu erfunden wird, sooft die Bürger mit der Indolenz der Behörden ihre Erfahrungen machen? Liegt es nicht eher nahe, daß der Zorn selber Recht spricht und als sein eigener Gerichtsvollzieher, sogar als selbsternannter Exekutor, an die Tür des Beleidigers klopft?
Erzählte Rache
Für diese Möglichkeit zeugen zahllose exemplarische Fallgeschichten aus jüngerer und älterer Zeit. Die Suche nach Gerechtigkeit treibt seit jeher ein zweites, wildes Gerichtswesen hervor, in dem die Gekränkten Richter und Vollzugsbeamte in einer Person zu sein versuchen. Aus unserem Blickwinkel ist an diesen Dokumenten und ihren realen Vorlagen bemerkenswert, daß erst die beginnende Moderne die Romantik der Selbstjustiz erfunden hat. Wer von modernen Zeiten spricht, ohne zur Kenntnis zu nehmen, in welchem Maß diese von einem vorbildlosen Kult um die exzessive Rache geprägt sind, ist einer Mystifikation erlegen. Man muß zugeben, dieser Kult fällt bis heute in den blinden Fleck der Kulturgeschichte – als ob der »Mythos vom Zivilisationsprozeß« nicht allein die Freisetzung der vulgärsten Manieren in der Neuzeit unsichtbar machen wollte (wie Hans Peter Duerrmit überwältigendem Reichtum an Belegen dargestellt hat), sondern auch die Inflation der Rachephantasmen. Während der globale Zug der Zivilisation auf die Neutralisierung des Heroismus, die Marginalisierung der militärischen Tugenden und die pädagogische Förderung der friedlich-geselligen Affekte zielt, öffnet sich in der Massenkultur des Aufklärungszeitalters eine dramatische Nische, in der die Verehrung der rächerischen Tugenden, falls sie so heißen dürfen, auf bizarre Höhen getrieben wird.
Dieses Phänomen ist bis in die Jahrzehnte vor der Französischen Revolution zurückzuverfolgen. Die Aufklärung setzt nicht nur die Polemik des Wissens gegen die Unwissenheit frei; sie erfindet auch eine neue Qualität von Schuldsprüchen, indem sie alle alten Verhältnisse gegenüber der Forderung nach neuer Ordnung ins Unrecht setzt. Hierbei gerät das Ökosystem der Resignation ins Wanken, innerhalb dessen die Menschen seit unvordenklichen Zeiten es lernten, sich mit unabwendbar scheinendem Unglück und Unrecht abzufinden. Nur unter aufklärerischen Vorzeichen wurde es möglich, daß die Rache zu einem epochalen Motiv aufstieg – in privaten wie in politischen Angelegenheiten. Seit die Vergangenheit grundsätzlich unrecht hat, nimmt die Neigung zu, der Rache nicht immer, aber immer öfter recht zu geben.
Selbstverständlich hatte schon die Antike die großen Rachehandlungen gekannt. Von den Furien des Orestes bis zum Rasen der Medea hat das antike Theater der dramatischen Potenz der rächerischen Kräfte Tribut gezollt. Der Mythos wußte ebenfalls früh von der gleichsam naturkatastrophischen Gefahr, die von gekränkten Frauen ausgeht. Wie das Beispiel der Medea zeigt, durchläuft gerade die weibliche Psyche den Weg vom Schmerz zum Wahnsinn und vom Wahnsinn zum Frevel mit furchterregender Geschwindigkeit. Das ist es, was Seneca in seinem Stück über die rasendeHeldin abschreckend exemplarisch zeigen wollte. In moderner Terminologie würde man darauf hinweisen, daß der passiv-aggressive Charakter zu Exzessen disponiert ist, sollte er sich ausnahmsweise für die Offensive entscheiden – damit schlägt die Stunde der Frauen auf der Rachebühne. Das Privileg der »großen Szene« gehört seit jeher dem in Schönheit wütenden Geschlecht. Nie war es den Alten der klassischen Zeit in den Sinn gekommen, solche Exempla für etwas anderes zu halten als für Mahnungen, sich sich an der Mitte zu orientieren und von Überspanntheiten fernzuhalten.
In einem der Schlüsselstücke des athenischen Dramas, den Eumeniden , mit dem die Atriden-Trilogie des Aischylos schließt, geht es um nicht weniger als den vollständigen Bruch mit der älteren Rache- und Schicksalskultur und die Einrichtung der politischen Gerechtigkeitspflege. Diese soll künftig ihren Sitz ausschließlich in bürgerlichen Gerichten haben. Deren Einrichtung erfordert eine sensible
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