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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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werden. Gott ist tot – das heißt im Licht unserer Erfahrung: Wir leben in einer Zeit, in der die Zornabsorption durch ein strenges, Achtung forderndes Jenseits mehr und mehr entfällt. Der Aufschub der menschlichen Rache zugunsten der Rache Gottes am Ende der Zeiten wird seit längerem von Unzähligen als eine nicht mehr akzeptable Zumutung empfunden. In einer solchen Lage stehen die Zeichen auf Sturm. Folglich gewinnt die Politik der Ungeduld weiter an Boden, nicht zuletzt bei ehrgeizigen und empörungsstarken Akteuren, die der Auffassung sind, sie dürften zum Angriff übergehen, sobald sie weder hüben noch drüben etwas zu verlieren haben. Wer könnte leugnen, daß das maßlose Unheil des vergangenen Jahrhunderts – wir nennen allein die russischen, die deutschen und die chinesischen Vernichtungsuniversen – in den ideologischen Aufbrüchenzur Übernahme der Rache durch irdische Zornagenturen gründete? Und wer wollte verkennen, daß heute schon die Wolken aufgezogen sind, aus denen sich die Gewitter des 21. Jahrhunderts entladen werden?
    So führt der Weg zum Verständnis der jüngst vergangenen und der sich ankündigenden Katastrophen fürs erste über die Erinnerung an die Theologie. Die Verknüpfung von Zorn und Ewigkeit war ein christliches Axiom. Wir werden zu zeigen haben, wie sich daraus die Konstellation von Zorn und Zeit – oder von Zorn und Geschichte – entwickeln konnte. Man hat in unseren religiös neu-analphabetischen Jahrzehnten so gut wie ganz vergessen, daß die Rede von Gott im Monotheismus immer auch einen zornigen Gott einschloß. Er ist der große Unmögliche unseres Zeitalters. Und wenn er untergründig daran arbeitete, wieder unser Zeitgenosse zu werden?
    Bevor wir auf diese vom Schutt der Geschichte verdeckte Figur erneut aufmerksam machen, ist es nützlich, die allgemeinen Geschäftsbedingungen der Zornwirtschaft genauer in Augenschein zu nehmen.

1   Z ORNGESCHÄFTE IM ALLGEMEINEN
    »Die Rache, ah die Rache,
    ist ein Vergnügen, den Weisen vorbehalten.«
    Da Ponte, Mozart, Le nozze di Figaro , 1786
    E s gibt keinen Zeitgenossen, der nicht zur Kenntnis genommen hätte, daß die Staaten und Bevölkerungen der westlichen Welt, und auf dem Umweg über diese die übrigen Weltgegenden, seit gut einem Jahrzehnt von einem neuen Thema irritiert werden. In nur halb gespielter Besorgnis schlagen die Wohlmeinenden seither täglich Alarm: »Der Haß, die Rache, die unversöhnliche Feindschaft sind plötzlich wieder unter uns aufgetaucht! Eine Mischung aus fremden Kräften, unauslotbar wie der böse Wille, ist in die zivilisierten Sphären eingesickert.«
    Vergleichbares bringen manche moralisch Engagierte mit vorwurfsvoll getöntem Realismus vor. Sie legen den Akzent darauf, daß uns die sogenannten fremden Kräfte nicht völlig fremd begegnen können. Was viele als schreckliche Überraschung zu erleben vorgeben, ist den Moralisten zufolge nur die Kehrseite des häuslichen modus vivendi . Das Ende der Verstellung steht bevor. »Bürger, Verbraucher, Passanten – es ist höchste Zeit, aus der Lethargie zu erwachen! Ihr wißt nicht, daß ihr noch immer Feinde habt, und wollt es nicht wissen, weil ihr die Harmlosigkeit gewählt habt!« Die neuen Appelle an das erwachsene Gewissen wollen den Gedanken durchsetzen, das Reale sei nicht entschärft – auch nicht im Inneren der großen Irrealitätsblase, die sich wie eine mütterliche Hülle um die Bürger der Wohlstandswelt legt. Wenn als real zu gelten hat, was uns als Todgeber gegenübertreten kann, stellt der Feind die reinste Inkarnation des Realen dar, und mit dem Wiederauftauchen der Möglichkeit vonFeindschaft steht die Rückkehr des Realen alten Stils bevor. Man kann hieraus im übrigen lernen, daß ein Reizthema sich nur durchsetzt, wenn aus einer Irritation eine Institution wird – mit weithin sichtbaren Wortführern und ständigen Mitarbeitern, mit Kundenservice, eigenem Budget, Expertentagungen, professioneller Pressearbeit und fortlaufenden Berichten von der Problemfront. Das alles kann der neue Dauergast im Westen, der Geist der Rache, zu seinen Gunsten in Anspruch nehmen. Er darf von sich sagen: Ich irritiere, also bin ich.
    Wer könnte in Abrede stellen, daß die Alarmisten, wie üblich, nahezu völlig recht haben? Die Bewohner der wohlhabenden Nationen schlafwandeln zumeist im unpolitischen Pazifismus. Sie verbringen ihre Tage in einer vergoldeten Unzufriedenheit. Unterdessen vertiefen sich an den Rändern der Glückszonen ihre

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