Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
und eine Alternative zu ihm, die Rückfälle in historische Drehbücher lancieren könnte, läßt sich beim gegenwärtigen Stand der Dinge nirgendwo erkennen. 42 Insbesondere der sogenannte globale Terrorismus ist ein durch und durch posthistorisches Phänomen. Seine Zeit bricht an, wenn sich der Zorn der Ausgeschlossenen mit der Infotainmentindustrie der Eingeschlossenen zu einem Gewalttheatersystem für letzte Menschen verbindet. Diesem Terrorbetrieb einen geschichtlichen Sinn andichten zu wollen wäre ein makabrer Mißbrauch erschöpfter Sprachreserven. Die ewige Wiederkehr des Gleichen, ob als einäugiger Zorn oder als auf beiden Augen kurzsichtige Rache, reicht nicht aus, um von einer Restauration des historischen Daseins sprechen zu dürfen. Wer möchte den Trägern von schwarzen Augenklappen die Hellsicht zubilligen, den Stand der Evolution zu definieren?
Was die neue soziale Frage angeht, liegt auf der Hand, daß eine Rückkehr zu den Fehlern der Vergangenheit nicht deren Lösung bringen wird. Nur eine Wiederholung des posthistorischen Kompromisses zwischen Kapital und Arbeit, das heißt für die Zukunft: die Zähmung der spekulativen Geldwirtschaft (in neudeutscher Wendung: des Heuschreckenkapitalismus) und die zügige Implantation eigentumswirtschaftlicher Strukturen in den Entwicklungsländern würde an dieser Front eine relative Beruhigung bewirken. Der Hinweis auf die Notwendigkeit, den Sozialstaat in die übernationale Dimension auszuweiten, beschreibt den Horizont für eine ernsthafte neue Sozialpolitik – die einzige Alternative hierzu wäre die autoritäre Wende des Weltkapitalismus, mit welcher gewisse fatale Optionen der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts auf die Tagesordnung zurückkehrten (an Indizien für diese Tendenz fehlt es im globalen Maßstab keineswegs).
Auch die zweite makropolitische Aufgabe der Zukunft: die Integration der nichtmenschlichen Akteure, der Lebewesen, der Ökosysteme, der »Dinge« überhaupt, in den Bereich der Zivilisation, hat mit den Fragestellungen der herkömmlichen Geschichte nichts mehr gemeinsam. Diese gelegentlich so genannte »Naturpolitik« beruht per se auf der Voraussetzung, daß menschengemachte Probleme sinnvollerweise durch die Verursacher und Betroffenen bearbeitet werden – das ergibt abermals Organisations-, Verwaltungs-, und Zivilisierungsaufgaben, keine Epen oder Dramen. 43 Und schließlich wird die dritte Großaufgabe der Zukunft – die Neutralisierung der völkermörderischen Potentiale in den von zornigen jungen Männern übervölkerten Staaten des Nahen und Mittleren Orients und anderswo – nur mit Hilfe einer Politik der posthistorischen Dedramatisierung zu bewältigen sein. Für all diese Prozesse wird Zeit benötigt, doch nicht im Sinn eines Rückfalls in die »Geschichte«, sondern ausschließlich als Lernzeit für Zivilisierungen.
An dieser Stelle brechen wir diese einführenden Überlegungen ab. Unsere von Friedrich Nietzsche, Alexandre Kojève, Leo Strauss,
Francis Fukuyama, Heiner Mühlmann und Gunnar Heinsohn angeregten Hinweise auf die thymotische Dynamik der individuellen wie der kollektiven Psyche haben
im Kontext einer Problemexposition genug geleistet, wenn sie helfen, die Wirklichkeit und Wirksamkeit einer nicht weiter reduzierbaren Dimension des Wert-
und Geltungsverlangens bei Menschen zu vergegenwärtigen. Der Leser muß nurnoch vor dem Mißverständnis gewarnt werden, der oben angedeutete Rekurs auf Platon impliziere eine heimliche Rückkehr zum griechischen Idealismus. Platon wird hier ad hoc als Lehrer einer reiferen Sicht auf die kulturell und politisch wirksamen Ambitionsdynamiken angerufen – wir hören ihm zu wie einem Gastdozenten von einem erloschenen Stern. Die Wende zu einem höheren psychologischen Realismus muß ansonsten mit den theoretischen Mitteln unserer Zeit vollzogen werden. Sie gelingt allein dann, wenn man der Versuchung widersteht, der die europäischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert gern und häufig, mit vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Suggestionen des Realismus, erlegen sind: im Namen der stets einseitig nach unten stilisierten »Realität« für die normalen, allzu normalen Handlungen von begierdenhaft und ressentimenthaft aufgereizten Menschen zuviel Verständnis zu zeigen.
Was Nietzsches zentrales Lehrstück vom Tode Gottes angeht, nimmt es im hier umrissenen Kontext eine Bedeutung an, deren psychopolitische Implikationen mit großer Verspätung fühlbar
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