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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Konzept, besser ein Phantasma bezeichnet, das den erfolgreichsten unter den bisher aufgetretenen Zornunternehmern, namentlich Lenin und Mao Zedong, vorschwebte: Es könne durch die disziplinierten Aktionen des Hasses eines Tages so viel zusätzlicher Schmerz, so viel überschießendes Grauen, so viel lähmender Selbstzweifel bei den Ordnungsmächten erzeugt werden, daß alles Bestehende an jenem nicht mehr fernen Tag des Massenzorns einschmilzt. Wenn das Bisherige erst seine ständische und stehende Festigkeit verloren hat, kann die verrottete Welt durch das Verwandlungsfeuer neu geschaffen werden. Die Bedingung hierfür ist: Die Vernichtung muß ihr Werk bis ans allerletzte Ende durchführen. Nur wenn das Alte restlos ausgelöscht wäre, könnte auf einem leer gefegten Baugrund die Rekonstruktion der richtigen Verhältnisse beginnen.
    Was Hegel die ungeheure Macht des Negativen genannt hat, gewinnt in dieser religiös mitbedingten Spekulation diedeutlichste Kontur. Der menschliche Zorn, aus allen Quellen gesammelt und auf effektive Weise organisiert, liefert dem bizarren Kalkül der großen Zornbankiers zufolge die Energie zu einer neuen Schöpfung. Das schreckliche Ende, vorausgesetzt, es gerät schrecklich genug, sollte dann folgerichtig wie von selbst in einen epochalen Anfang übergehen.
    Wer imstande ist, Überlegungen dieser Art auf der Höhe ihrer makellosen Rücksichtslosigkeit nachzuvollziehen, lernt eine Sorge kennen, die den bunten Rebellen wie auch den Mitläufern lokaler Haßprojekte das Blut in den Adern stocken ließe, wären sie fähig, sich die großen strategischen Perspektiven zu vergegenwärtigen. Der apokalyptische Zornunternehmer muß nach Möglichkeit verhindern, daß die Aktion lokaler Zellen den großen Plan durch Übereilung gefährdet. Dies erlegt ihm selbst eine extreme Askese auf – und die ist auf das Gefolge zu übertragen. Stets muß der Weltrevolutionär gegen die spontanen Gefühle planen, beharrlich muß er seine ersten Reaktionen verwerfen. Er weiß: Ohne die tiefste Enteignung im Jetzt wird es zur höchsten Aneignung im Dereinst niemals kommen. Je mehr die lokale Empörung recht hat, desto mehr hat sie vom globalen Standpunkt aus unrecht. Steht die Verwandlung aller Dinge im Plan, muß die Ungeduld der einzelnen rächerischen Parteien um jeden Preis gedämpft werden. Vielmehr gilt es, alle explosionsbereiten Fraktionen auf das Ruhighalten und In-Form-Beiben bis zum reifen Tag des Zorns zu verpflichten.
    Die Zeitstruktur der Revolution ist infolgedessen wie ein umfassender Advent zu denken. Was auf die Revolution hinführt, gehört zur qualifizierten Zeit der eigentlichen Geschichte. Deren Ablauf entspricht dem Brennen einer Lunte. Es bedarf einer großen geschichtlichen Erfahrung und einer guten Dosis Intuition, um beurteilen zu können, bis zu welchem Punkt die Zündschnur des Zorns bereits abgebrannt ist. Wer beides besitzt, ist für Führungsaufgaben an der Spitze der Zornbank geeignet. Von seiner souveränen Plattformaus ist ein solcher Chef berechtigt, den Mitarbeitern zu befehlen, ihr Pulver trocken zu halten. Für die Doppelstrategie der weltpolitischen Zornsammlung ist jedenfalls Kaltblütigkeit die erste Bedingung. Zum einen muß sie ständig den Haß und die Empörung schüren, zum anderen ihm ebenso ständig Zurückhaltung auferlegen. So verlangt das Dasein in vor-explosiven Zeiten die Gestimmtheit des gewaltbereiten Wartens.
    Wo kann man diese höhere Ökonomie studieren? Niemand wird glauben, ein akademisches Heidegger-Studium werde genügen, um sich in den Besitz solch gefährlicher Weisheiten zu bringen. Sosehr ihre Affinität zum Tenor der Untersuchungen von Sein und Zeit auf der Hand liegt, war doch der Meister von Meßkirch der Zeitstruktur des revolutionären Ressentiments nur auf sehr formalistische Weise nahe gekommen, bevor er für eine Weile in die schwarze Idylle der »nationalen Revolution« auswich. Heidegger hatte über die logischen und systemischen Implikationen des Begriffs Revolution nie wirklich zureichend Klarheit gewonnen, so wenig wie er den Zusammenhang zwischen der Geschichtlichkeit und der Ressentimenthaftigkeit des Daseins durchdrang. Von dem tiefen Nexus zwischen Zorn und Zeit gibt seine Untersuchung über die Temporalstrukturen des sorgenden, entwerfenden und sterbenden Daseins keinen angemessenen Begriff. Die Geburt der Geschichte aus der Projektform des Zorns, erst recht die Gesamtheit der Vorgänge, die zur Kapitalisierung des

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