Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Ressentiments führen, sind in seinem Werk dunkel geblieben.
Neben Heidegger wären selbstverständlich Marx und Lenin als Autoritäten für die Dynamik vorrevolutionärer und revolutionärer Negativität heranzuziehen. Seltsamerweise ist das Studium dieser Autoren gegenwärtig nahezu unmöglich, nicht weil die Texte unzugänglich wären, sondern weil dieMauer des Zeitgeistes den Zugang zu ihnen so massiv versperrt, daß selbst der Langmütigste sie kaum aus eigener Kraft überwinden kann. Die Schriften der marxistischen Klassiker sind heute, von einigen noch immer rezitablen »Stellen« abgesehen, für Menschen mit zeitgenössischen intellektuellen, moralischen und ästhetischen Reflexen praktisch unlesbar geworden. Sie erscheinen wie in einer illusionären Fremdsprache geschrieben und sind in solchem Maß von obsoleten Polemiken durchzogen, daß ihre abstoßende Wirkung bis auf weiteres die bestwillige Forscherneugier überwiegt. Überdies bieten sie Anschauungsunterricht für eine Begriffsgläubigkeit, wie man sie sonst nur bei fundamentalistischen Sekten beobachtet. Obwohl sie sich auf die Wissenschaft von der »Gesellschaft« und ihren »Widersprüchen« berufen, lassen sich viele Texte aus der Feder der linken Klassiker (ausgenommen einige technische Primärtexte wie Das Kapital ) nur noch wie unfreiwillige Parodien rezipieren. Allein dank einer völlig unzeitgemäßen Askese könnte man sich dem Programm unterziehen, aus den Schriften von Marx und Lenin Aufschlüsse für eine Theorie der Gegenwart abzuleiten (wobei man die Elaborate Mao Zedongs von vorneherein aus der Liste zumutbarer Lektüren streichen muß). Nichtsdestoweniger stellen die Arbeiten dieser Autoren ein massives Kompendium des Zornwissens dar, ohne das die Dramen des 20. Jahrhunderts nicht angemessen beschreibbar sind. Wir kommen auf dieses abgesunkene Korpus im dritten und vierten Abschnitt dieses Versuchs zurück, da sie auf indirekte Weise über die kommenden Dinge Aufschluß geben.
Eine der letzten Gelegenheiten, etwas mehr über die unpopulären Kalküle der großen Zornwirtschaft in Erfahrung zu bringen, bot sich in der westlichen Welt Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts – in jener makabren und glorreichen Epoche, als die tausend Blumen der Radikalität wie zum letzten Mal in voller Blüte standen. Man hätte sich in diesen Jahren leichtvon der Wahrheit der Marxschen Bemerkung überzeugen können, wonach die historischen Stücke, nach ihrer Uraufführung im tragischen Stil, sich regelmäßig als Farce wiederholen. Die Farce erschien in diesem Fall als der Versuch, die Zustände der dreißiger Jahre auf die von 1968 und danach zu projizieren, um aus ihnen Regeln für den »Widerstand« gegen das »herrschende System« abzuleiten. In den tief esoterischen Debatten der Kadergruppen war damals immer wieder der Lehrsatz zu hören, Geduld habe die erste Tugend des Revolutionärs zu sein. In solchen Ermahnungen spiegelte sich der Generationenkonflikt zwischen der alten Garde und der linksradikal aufbegehrenden Jugend. An die Adresse der letzteren richteten die spätstalinistischen Weisen die erbauliche Auskunft, daß man, obschon die Revolution bereits »begonnen« habe und künftig stets »ab jetzt« gerechnet werden müsse, ihren manifesten Ausbruch auf keinen Fall voluntaristisch beschleunigen dürfe.
Erst heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, da der ewige Friede des realen Konsumismus durch den vielerorts proklamierten »Wiederbeginn der Geschichte« bedroht ist (wozu auch ein wieder aufkommendes linksfaschistisches Flüstern an den Rändern der Akademia gehört), finden wir eine neue Chance, zu begreifen, was das Lob der revolutionären Tugend zu besagen hatte. Geduld bezeichnete die Haltung des historischen Zornsubjekts, das sich durch eine kalte, quasiidealistische Askese von seinen persönlichen Motiven freigemacht hat. Mischt sich ein privater Faktor in die unverzichtbare Rache an den Verhältnissen (dem Jargon der Zeit gemäß: in die Praxis) ein, sind Voluntarismus und verfrühte Verausgabungen die unvermeidlichen Folgen – die berüchtigten »Kinderkrankheiten« der heranwachsenden Revolution. Mögen solche eruptiven Episoden aus der Sicht der Akteure noch so berechtigt scheinen: Aus der Perspektive eines leitenden Mitarbeiters in der Weltbank des Zorns sind sie das Schlimmste, was vor dem Tag X geschehen kann. Denhohen Funktionären ist die Einsicht deutlich, wonach sich aufgrund
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