Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Israel dazu ein, religiös weit über seine politischen Verhältnisse zu leben und im Vertrauen auf ihn den Kopf höher zu tragen als die machtvollsten Reichsherren ringsum. Er enthüllte sich hierdurch als der deus politicus schlechthin, der Parteimann aller Parteileute, der Anker einer sakralen Einseitigkeit, die sich in dem folgenschweren Begriff des Bundes artikulierte. Wie in der Blütezeit des Kommunismus das Dogma herumgereicht wurde, die marxistische Wissenschaft vereine in sich Objektivität und Parteilichkeit, so gaben die jüdischen und christlichen Theologien, bekanntlich immer blühende Gewächse, von alters her zu verstehen, Gottes universale Gerechtigkeit drücke sich in seiner Bevorzugung eines der beiden Bundesvölker aus.
Bei der Entwicklung eines Zornmanagements von globaler Reichweite (das heißt, in moderner Sicht, bei der Unterordnung der Politik unter die Moral, der Kunst des Möglichen unter die Kunst des Wünschbaren) ist eine konstituierende erste Phase anzunehmen, die sich über mehr als zwei Jahrtausende erstreckt. In ihr gewinnt die bedrohlich-erhabene Vorstellung Gestalt, ein souverän lenkender und richtender, doch auch teilhabend-erregbarer und »eifernder« Gott greife ständig in den Gang der menschlichen Konflikte alias Geschichte ein; und weil die Geschichte der Menschen weitgehend synonym ist mit dem, was Gott verärgert, geschehendiese Eingriffe zumeist im Modus des Zürnens, gegen die Seinen nicht weniger als gegen deren Widersacher. Er zeigt seinen Zorn, indem er Kriege, Seuchen, Hungersnöte und Naturkatastrophen als dienstbare Strafgeister beschäftigt (technisch gesprochen: als Zweitursachen im Auftrag der erstursächlichen Majestät). Von demselben Gott geht in späterer Zeit die Rede, er verhänge beim Jüngsten Gericht ewige Körper- und Seelenstrafen über diejenigen, die in ihren irdischen Tagen die Gelegenheit zur Buße versäumten und sich der gerechten Strafe für ihre Taten entzogen.
Aus den Jenseitsvorstellungen des alten Ägypten und des Nahen Ostens hervorgegangen, hat sich das Gerichtsmotiv in seiner spätmittelalterlichen und
barocken Kulmination zu den grellsten bildlichen Ausmalungen gesteigert. Sollte man den ideengeschichtlichen Sonderweg der christlichen Intelligenz
bezeichnen, wäre wohl zu sagen: Christlich ist (oder war bis vor kurzem) das Denken, das sich aus Sorge um das Heil auch dessen Gegenteil, die Hölle,
vorstellt. Noch im 20. Jahrhundert hat der katholische Ire James Joyce dem metaphysischen Grauen ein Denkmal gesetzt und die Begegnung der Qual mit der
Unendlichkeit in den leuchtendsten und schwärzesten Farben geschildert. 2 Unter dem Einfluß dieser Idee wird der Begriff
Ewigkeit mit dem Bild einer finalen Straf- und Folteranstalt assoziiert, die sich auf ein umfassendes göttliches Unrechtsgedächtnis und eine entsprechende
Rachekompetenz stützt. Mit Hilfe dieses Vorstellungskomplexes hat die Angst unter Christen Seelengeschichte geschrieben. 3 Es trifft wohl zu, daß die Theologie des 20. Jahrhunderts sich diskret von den unangenehmen Hypotheken der Höllendogmatik verabschiedet hat. Die
Gestalt deszornigen Gottes, sofern Spurenelemente von ihm bis in zeitgenössische Gedächtnisse weitergewandert sind, ruft gleichwohl noch immer die Erinnerung an die allerchristlichste Hölle herauf.
Wird der Zorn Gottes in die Zeit zurückübersetzt und von einer menschlichen, universal orientierten Regie aufgegriffen, entsteht eine »Geschichte« mit revolutionärer Klimax, deren Sinn es ist, das zornerregende Unrecht an seinen Urhebern, mehr noch an seinen strukturellen Voraussetzungen zu rächen. Man könnte die Moderne definieren als die Epoche, in der die Motive Rache und Immanenz miteinander fusionieren. Diese Liaison ruft die Existenz einer Racheagentur von globaler Tragweite hervor – wir werden im nächsten Abschnitt die Partei, die immer recht hat, als Verkörperung einer solchen Instanz beschreiben. Nur von einer Handlungszentrale dieses Niveaus konnte Schillers Diktum, die Weltgeschichte sei das Weltgericht, in die Praxis überführt werden. Zunächst soll jedoch nicht von der Übersetzung des heiligen Zorns in die irdische Geschichte, sondern von seiner Sammlung in der Ewigkeit die Rede sein.
Präludium: Die Rache Gottes an der säkularen Welt
Wenn es zutrifft, daß die Globalisierung des Zorns eine ausgedehnte theologische Anfangsphase zu durchlaufen hatte, ehe sie in weltliche Regie übertragbar wurde, stoßen wir auf
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