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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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nimmt ihr nichts von ihrer Blindheit. Sie beschränkt sich auf den Versuch, mit einem Stock den Nebel zusammenzuschlagen. Selbst eine Massenbewegung wie die des Sklavenführers Spartakus in den Jahren 73 bis 71 vor Christus konnte nicht mehr erreichen als ein italienweit mitreißendes Auflodern des Hasses gegen die Herrschaft der römischen Grundbesitzer. Obwohl die aufrührerischen Gladiatoren von Capua den römischen Armeen mehrere Niederlagen zufügten, waren das letzte Resultat dieses Aufstands Alleen des Schreckens, in denen sechstausend gekreuzigte Rebellen in tagelangen Agonien ihr Leben verloren. Seine Folgen bestanden in steigender Repression und vertiefter Entmutigung. Die Wiederbelebung der Spartakuslegende und ihre Aufnahme in das symbolische Arsenal moderner Klassenkämpfe verrät gleichwohl, daß man in den Archiven des Zorns mit einem jahrtausendealten »Erbe« rechnet. Merke: Wer den Zorn hegen und vererben will, muß die Nachkommen zu einem Teil einer Geschichte von revanchefordernden Opfern machen.
    Der Befund der historischen Erfahrung läßt keine Zweideutigkeit zu: Das kleine Zornhandwerk ist dazu verurteilt, sich in verlustreichen Pfuschereien zu erschöpfen. Solange die lokalen Vermögen der aufrührerischen Leidenschaften nicht in weiträumig operierenden Zornsammelstellen zusammengefaßt und von einer visionären Regie koordiniert werden, verbrauchen sie sich in ihrem expressiven Rumoren. Die isolierten Wutquanten kochen in schäbigen Geschirren, bis sie verdunsten oder verbrannte Sedimente zurücklassen, die nicht ein zweites Mal erhitzbar sind. Das zeigt die Geschichte der kleineren Protestparteien unmißverständlich.Nur wenn die diskreten Energien in überlegene Großprojekte investiert werden und wenn sich weitsichtige, hinreichend ruhige und diabolische Regisseure um die Verwaltung der kollektiven Zornvermögen kümmern, kann aus den vielen und isolierten Feuerstellen ein Kraftwerk werden, das Energie für koordinierte Aktionen liefert, bis hinauf zu der Ebene der »Weltpolitik«. Dazu sind visionäre Parolen nötig, die nicht nur zur akuten Wut der Menschen sprechen, sondern auch zu ihren tieferen Verbitterungen, nicht zuletzt ihren Hoffnungen und ihrem Stolz. Der kälteste Zorn verfaßt seine Tätigkeitsberichte im Stil des heißen Idealismus.
    Wie die Geldökonomie überschreitet auch die Zornwirtschaft ihre kritische Schwelle, wenn der Zorn vom Stadium seiner lokalen Anhäufung und punktuellen Verausgabung zu dem der systematischen Investition und der zyklischen Vermehrung aufsteigt. Beim Geld beschreibt man diesen Unterschied als den Übergang von der Schatzform zur Kapitalform. Hinsichtlich des Zorns wäre die entsprechende Transformation vollzogen, sobald die rächerische Schmerzerzeugung sich von der Racheform zur Revolutionsform wandelt. Revolution, im extensivsten Sinn des Wortes, kann keine Sache des Ressentiments isolierter Privatpersonen sein, obschon auch solche Affekte im kritischen Augenblick auf ihre Kosten kommen. Sie impliziert die Gründung einer Zornbank, deren Investitionen so gründlich überlegt sein müssen wie Armeeoperationen vor der Entscheidungsschlacht – oder Aktionen eines Weltkonzerns vor der feindlichen Übernahme des Konkurrenten.
    Das Konzept der kommenden »Revolution«, im Licht der Ereignisse von 1917 betrachtet, beschließt den Übergang vom Aktualismus zum Futurismus des Zorns. Es impliziert die vollständige Absage an das Ausdrucksprinzip, denn in geschäftlicher Perspektive bedeuten rächerische Ausdruckshandlungen nicht mehr als narzißtische Energieverschwendung. Wer als professioneller Revolutionär, das heißt alsAngestellter einer Zornbank, tätig ist, drückt nicht eigene Spannungen aus, er folgt einem Plan. Das hat die völlige Unterordnung der revoltischen Affekte unter die Unternehmensstrategie zur Voraussetzung. Es reicht nicht mehr zu, »die Welt mit Gräueln zu verschönern« – der sarkastischluziden Wendung gemäß, die Schillers Räuber -Held Karl Moor vorbringt, um die Maxime seines Aufruhrs gegen das unzulängliche Gesetz zu kennzeichnen. Wer künftig die Welt verschönern will, muß bei ihrer Verhäßlichung viel weiter gehen, als die Rebellen- und Attentäterromantik es sich träumen ließ. Einzelne Blumen des Bösen sind nicht mehr genug – man braucht die ganze Gärtnerei.

Die ungeheure Macht des Negativen
    Mit dem noch immer von ferne faszinierenden, wenn auch zunehmend hohl klingenden Begriff Revolution wird ein

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