Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
zugunsten der Erniedrigten und Beleidigten.
Solange jedoch der Zorn auf der Explosionsstufe bleibt, entlädt er sich im Modus des »Aufflammens«: »Da schwoll mächtig an der Zorn des Achilles«. Die direkte thymotische Abreaktion stellt eine Version von erfüllter Gegenwart dar. Dem Zornigen, wie dem Glücklichen, schlägt keine Stunde. Das Toben im Hier und Jetzt neutralisiert die retrospektiven und prospektiven Ekstasen der Zeit, so daß beide im aktuellen Energiefluß verschwinden. Das macht den Furor für den Rasenden selbst attraktiv. Das Leben des Furorsubjekts ist das Prickeln im Kelch der Situation. Für die Energieromantiker bedeutet das Agieren in Wut eine Version von flow . Sie impliziert die Rückkehr in die mystische und tierische Zeit, von der ihre Kenner versichern, sie habe die Qualität des stehend-fließenden Jetzt.
Projektform des Zorns: Rache
Die Stiftung einer qualifizierten oder existentialen Zeit – einer gelebten Zeit mit Zurückhaltungs- und Vorspannungscharakter– erfolgt durch den Entladungsaufschub. Das Zornpotential wandelt sich zu einem Vektor, der eine Tendenzspannung zwischen damals, jetzt und später erzeugt. Darum läßt sich sagen: der Zornige, der sich vorläufig zurückhält, ist der erste, der weiß, was es bedeutet, etwas vorzuhaben. Er ist zugleich der erste, der nicht nur in Geschichten lebt, sondern auch Geschichte macht – sofern das Machen hier soviel heißt wie: der Vergangenheit die Motive entnehmen, um für Kommendes zu sorgen. In dieser Hinsicht gibt es nichts, was sich mit der Rache vergleichen ließe. Der aktivierte Thymos entdeckt durch sein Verlangen nach Genugtuung die Welt als Spielraum für Entwürfe nach vorn – Entwürfe, die aus dem Gewesenen Schwung holen für den späteren Schlag. Der Zorn wird zum momentum einer Bewegung in die Zukunft, die man schlechthin als Rohstoff geschichtlicher Bewegtheit verstehen kann.
So elementar diese Beobachtungen scheinen mögen, ihre Implikationen reichen bis in die innersten Motive der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Treffen sie zu, ziehen sie empfindliche Modifikationen an einem der bekanntesten Theoreme der neuzeitlichen Philosophie nach sich. Man darf dann keinesfalls die existentiale Zeit unmittelbar als Sein-zum-Tode deuten, wie es Heidegger in Sein und Zeit in einer so berühmten wie überstürzten Deutung vorschlug. Das Ganz-sein-Können der Existenz, auf welches es dem Denker ankommt, ist durchaus nicht darauf angewiesen, daß der Einzelne den eigenen Tod bedenkt, um sich seiner Gerichtetheit auf etwas, das unbedingt bevorsteht, zu vergewissern. Das Dasein kann sich ebensogut daran orientieren, daß es als Ganzes die Strecke von der Kränkung zur Rache durchläuft. Aus solcher Hingespanntheit auf den entscheidenden Augenblick entspringt die existentiale Zeit – und diese Stiftung eines Seins-zum-Ziele ist mächtiger als jede vage heroische Meditation des Endes. Das Dasein, wenn es zürnt, hat nicht die Form des Vorlaufens in den eigenen Tod, sonderndie der Vorwegnahme eines unverzichtbaren Tags des Zorns. Man müßte eher von einem Vorlaufen in die Genugtuung sprechen. Denkt man von hier aus an den Protagonisten der Ilias zurück, wird sichtbar, daß diesem ein kriegerisches Sein-zur-Vernichtung zur zweiten Natur geworden war. Sein Aufbruch in den letzten Kampf vor den trojanischen Mauern bezeichnet den Beginn einer Handlungssequenz, mit welcher der Untergang des Helden intendiert war. In dieser Hinsicht ist die These legitim, der Heidegger des Sein-zum-Tode-Theorems gehöre in die Reihe der Europäer, die die Arbeit am Mythos Achills durch die Zeiten trugen.
Aus der Projektform des Zorns entsteht die Rache. Auch dieser Begriff verlangt danach, zunächst neutral und ökologisch untersucht zu werden. Man darf das Racheverlangen getrost unter die unerfreulichsten Regungen des Menschen zählen. Daß es zu den Ursachen der größten Übel gehört, lehrt die Geschichte, sofern sie als »Lehrmeisterin des Lebens« nicht ausgedient hat. Unter dem Namen ira wird die Regung zu den Todsünden gerechnet. Sollte dennoch Vorteilhaftes über sie vorgebracht werden, wäre es die Feststellung, wonach mit ihr die Möglichkeit der Unterbeschäftigung aus dem Leben des Rächers verschwindet. Wer einen festen Rachevorsatz unerledigt in sich trägt, ist vor Sinnproblemen bis auf weiteres sicher. Ein langer Wille schließt Langeweile aus. Die tiefe Einfachheit der Rache befriedigt das allzu menschliche Bedürfnis nach
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