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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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starker Motivierung. Ein Motiv, ein Agent, eine notwendige Tat: Das ergibt das Formular zum vollkommenen Projekt. Das wichtigste Merkmal des projektförmig durchgeordneten Daseins zeigt sich darin, daß in ihm die Beliebigkeit ausgelöscht wird. Dem Rächer bleibt die »Not der Notlosigkeit« erspart, von der Heidegger behauptet hatte, sie sei das Signum der vom Sinn für Not-Wendigkeit im Stich gelassenen Existenz. Tatsächlich kann man nicht behaupten, der Rächer lebe wie ein Blatt im Wind. Der Zufall hat keine Macht mehr über ihn. So erlangtdie rächerische Existenz in nach-metaphysischer Zeit eine restmetaphysische Bedeutung: Dank der Rache verwirklicht sich die »Utopie des motivierten Lebens« in einem Milieu, in dem immer mehr Menschen vom Gefühl des Leergelassenseins erfaßt werden. Niemand hat dies klarer zum Ausdruck gebracht als der Genosse Stalin, als er gegenüber den Kollegen Kamenew und Dschersinski die Bemerkung fallenließ: »Das Opfer wählen, den zu führenden Schlag sorgfältig vorbereiten, den Rachedurst unerbittlich stillen und sich dann schlafen legen … Es gibt nichts Süßeres auf der Welt.« 8

Bankform des Zorns: Revolution
    Die Projektform des Zorns (die man polizistisch Selbstjustiz oder Bandenwesen, politisch Anarchismus oder Gewaltromantik nennen würde) ist zur Bankform ausbaufähig. Damit bezeichnen wir die Aufhebung der lokalen Wutvermögen und der zerstreuten Haßprojekte in eine übergreifende Instanz, deren Aufgabe, wie bei jeder authentischen Bank, darin besteht, als Sammelstelle und Verwertungsagentur für Einlagen zu dienen. Unweigerlich affiziert dieser Übergang die Zeitstruktur der in Einzelprojekten gebundenen Potentiale noch einmal. Wie schon die Rache als Projektform des Zorns diesem eine längere zeitliche Erstreckung gibt und eine pragmatische Planung angedeihen läßt, verlangt die Bankform des Zorns von den einzelnen rächerischen Regungen, sich einer überlegenen Perspektive einzuordnen. Diese reklamiert für sich stolz den Begriff »Geschichte« – selbstverständlich im Singular. Durch die Schaffung einer Zorn-Bank (als Depot für moralische Explosiva und rächerische Projekte verstanden) geraten die einzelnen Vektorenunter eine zentrale Regie, deren Erfordernisse nicht immer mit den Rhythmen der lokalen Akteure und Aktionen übereinstimmen. Doch nun wird Unterordnung unverzichtbar: Die zahlreichen rächerischen Geschichten sollen endlich zu einer vereinten Geschichte zusammengezogen werden.
    Wir konstatieren auf dieser Stufe den Übergang von der Projektform zur Geschichtsform des Zorns. Die »Geschichte« selbst nimmt die Form eines Unternehmens von höchstem Ambitionsgrad an, sobald sich ein Kollektiv konstituiert, das seine Zornpotentiale – wie seine Hoffnungen und Ideale – in gemeinsame langfristige Operationen investiert. Die erzählte Historie übernimmt dann die Aufgabe, von den Taten und Leiden des maßgeblichen Zornkollektivs Rechenschaft zu geben. Um es nahezu mit den Worten von zwei berühmten Kollegen aus dem Jahr 1848 zu sagen: Alle Geschichte ist die Geschichte von Zornverwertungen.
    Wenn die Zornwirtschaft bis zum Bankniveau angehoben wird, verfallen die anarchischen Unternehmen der kleinen Zornbesitzer und der lokal organisierten Wutgruppen einer strengen Kritik. Zugleich mit der Anhebung der Zornorganisation vollzieht sich eine Rationalisierung der rächerischen Energien: Sie durchläuft den Weg von der puren Impulsivität über den punktuellen Anschlag bis zur Konzeption von Angriffen gegen den Weltzustand im ganzen. Aus der Sicht der Zornbankiers sind die Aktionen lokaler Wutagenturen nicht mehr als blinde Verausgabungen, deren Widersinn sich darin erweist, so gut wie nie eine angemessene Rendite abzuwerfen. Dafür sorgt nicht zuletzt die Tatsache, daß das anarchische Ausagieren der Zornkräfte regelmäßig das Eingreifen der Ordnungskräfte provoziert, die meistens nicht viel Mühe haben, individuelle Haßausbrüche und lokale Revolten zu neutralisieren.
    Auf dieser Stufe werden Zornaktionen gewöhnlich noch als Vergehen geahndet oder als Verbrechen bestraft. Es nützt also nichts, Telefonzellen zu zertrümmern oder Autos inBrand zu stecken, wenn man damit nicht ein Ziel verfolgt, das den vandalischen Akt in eine »historische« Perspektive integriert. Die Wut der Zellenzerstörer und Brandstifter verbraucht sich in ihrem eigenen Ausdruck – und daß sie sich oft durch die unsanften Reaktionen von Polizei und Justiz regeneriert,

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