Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
verfrühter Eruptionen jener äußerste Spannungsbogen nicht aufbauen könnte, der es allein ermöglicht, die weltweit zerstreuten Guthaben des Zorns in eine einzige finale Aktion namens »Weltrevolution« einzubringen. Die feindliche Übernahme der »Welt« durch ihre Benachteiligten setzt voraus, daß deren vielfältige Fraktionen ihre Kräfte ab jetzt nie mehr in spontanen Einzelunternehmen verzetteln.
    Das berühmteste warnende Beispiel für die anarchistische Verschwendung von Zornguthaben lieferten die Attentäter, die am 1. März 1881 den Zaren Alexander II ., den Befreier der Leibeigenen, ermordeten. Die unmittelbaren Konsequenzen bestanden in der Verschärfung der Repression und dem Ausbau eines allgegenwärtigen Polizeisystems. Noch folgenschwerer war die sinnlose Verausgabung von Haßvermögen bei den Nachahmern der Attentäter von 1881, einer Gruppe von Studenten der Universität von St. Petersburg, die für den 1. März 1886 einen Anschlag auf den Nachfolger des Ermordeten, Alexander III ., planten – die Tage des politischen Zorns folgen bekanntlich einem eigenen Kalender. Unter ihnen befand sich der einundzwanzigjährige Alexander Uljanow. Das Vorhaben wurde vor seiner Ausführung von der Polizei aufgedeckt, Alexander wurde samt 14 Mitverschworenen verhaftet, vor Gericht gestellt und im Mai 1887 zusammen mit vier anderen unbußfertigen Aufständischen durch den Strang hingerichtet; die übrigen zehn Verurteilten kamen nach den Gepflogenheiten der begnadigungsfrohen russischen Autokratie mit dem Leben in der Verbannung davon. Wladimir Uljanow, der »Bruder des Gehenkten«, durchlief in der Folgezeit eine Verwandlung, aus welcher er als »Lenin« hervorging, der erste integrale Zornpolitiker der neueren Geschichte. In dieser Eigenschaft hatte er begriffen, daß der Weg zur Macht allein über die Eroberung des Staatsapparats, nicht über die letztlich nur symbolisch relevante Ermordung seiner Vertreter führt.
    Das vielzitierte, wahrscheinlich zurückdatierte oder erfundene Wort des jungen Lenin nach dem Tod seines Bruders: »Wir werden nicht diesen Weg gehen«, gilt zu Recht als der erste Satz der Russischen Revolution. 9 Mit ihm beginnt das Jahrhundert der Zorngeschäfte großen Stils. Wer auf den Fürstenmord verzichten kann, bekommt eines Tages, als Zugabe zur eroberten Macht, den toten Fürsten umsonst.

2   D ER ZORNIGE G OTT:
D er W EG ZUR E RFINDUNG DER METAPHYSISCHEN R ACHEBANK
    W ir haben am Ende der Einleitung behauptet, der politisch-psychologischen Konstellation von Zorn und Zeit (oder Zorn und Geschichte) gehe die theologische Konstellation von Zorn und Ewigkeit voraus. Was das bedeutet, muß nun entwickelt werden. Seien wir darauf gefaßt, daß sich im Gang der Untersuchung nicht-triviale Einblicke in die Funktion und Bauweise monotheistischer Religionen ergeben.
    Daß die Theologie eine politische Größe sein will, kann und muß, ergibt sich aus einer einfachen Feststellung: Die für den Gang der abendländisch-europäischen Geschichte relevanten Religionen, die mesopotamischen wie die mittelmeerischen, waren immer politisch und werden es, soweit sie überlebten, bleiben. In ihnen sind die Götter transzendente Parteigänger ihrer Völker und Schutzherren ihrer Reichskonstruktionen. Sie üben diese Funktion selbst auf die Gefahr hin aus, das zu ihnen passende Volk und dessen Reich erst erfinden zu müssen. Dies gilt besonders für den Gott der Monotheisten, der von prekären ägyptischen Anfängen bis zu seinen römischen und US -amerikanischen Triumphen einen weiten geopolitischen Bogen durchmaß, mögen auch seine Verehrer oft behaupten, er sei kein bloßer Reichsgott (Reiche sind bekanntlich verderbliche Ware), sondern der überzeitliche und überpolitische Schöpfer und Hirte aller Menschen. 1
    Tatsächlich war auch der Eine Gott Israels zunächst einGott ohne Reich. Als der Verbündete eines kleinen Volkes, dessen Überlebensambitionen er zu seiner Angelegenheit gemacht hatte, schien er fürs erste nicht mehr darzustellen als einen Provinzgott unter anderen. Auf die Dauer jedoch sollte er sich zum politisch virulentesten Gott in den Himmeln über dem Zweistromland und dem Mittelmeer wandeln. Allmachtsbewußt, obschon auf Erden kaum wahrnehmbar, brachte er sich gegenüber den prunkvoll inkarnierten Reichsgöttern des Nahen Ostens und Roms offensiv in Stellung und meldete strenge Überlegenheitsansprüche an. Als Prätendent auf eine glänzende Alleinstellung lud er das alte Volk

Weitere Kostenlose Bücher