Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
eine Verlegenheit, die in eine Verständnisschwierigkeit von prinzipiellem Charakter mündet. Wir haben eingangs versucht zu zeigen, warum es für moderne Menschen unmöglich ist, den Zorn des Achilles zu den Bedingungen des homerischen Zeitalters nachzuvollziehen. Was in den nachstehenden Abschnitten folgt, ist ein analoger Nachweis für den biblisch dokumentierten Zornprophetismus des Judentums und die scholastische und puritanische Zorntheologie christlicherMachart. Es ist für heutige Zeitgenossen ausgeschlossen, den Zorn des Einen Gottes so zu würdigen, wie er von den Exegeten des triumphierenden Monotheismus auf dem Höhepunkt seiner Selbstgewißheit doziert worden war. Wer glauben wollte, man könne auf einen Rückgang in die ältere Geschichte des horror metaphysicus verzichten, da der aktuelle Islamismus stellvertretenden Anschauungsunterricht biete, irrt sich von Grund auf. Die von Islamisten getragene Gewaltwelle verrät allenfalls etwas über die jüngsten Neuinszenierungen der seit altjüdischen Tagen bekannten Figuren des eifernden Gottes und des Eiferns für Gott. Sie bleibt stumm, wenn es um die Frage geht, wie Gott das Attribut Zorn erwerben konnte.
Zu einer Würdigung der authentischen Gotteszornlehre würde gehören, zwei Begriffe mit literalem Sinn zu füllen, deren Bedeutung für uns allenfalls noch metaphorisch gegenwärtig ist: Herrlichkeit und Hölle. Den Gehalt dieser Ausdrücke, die zu anderen Zeiten die Extreme des Hohen und Tiefen in einer von Gottes Gegenwart geprägten Welt bezeichneten, vermögen die Heutigen unmöglich noch zu konkretisieren, selbst wenn sie den besten Willen dazu aufböten. Wäre ein Mensch der Moderne befähigt, sie ihrem metaphysischen Ernst gemäß zu verwenden, müßte er sich mit dem furchtbarsten Satz der Weltliteratur einverstanden erklären können – jener Inschrift über dem Höllentor zu Dantes Inferno , die für die Ewigkeit verkündet: »Mich schufen die Erste Weisheit und die Erste Liebe.« Die Unmöglichkeit der wissentlichen Einwilligung in diese Terrorworte gibt eine Ahnung von der Verfänglichkeit der Aufgabe, die zu lösen wäre – und deren Lösung eben, wie wir glauben, nicht mehr gelingt. Diese Schwierigkeit sehen heißt in eine Betrachtung über den Preis des Monotheismus eintreten. Vorausgreifend sei gesagt, daß dieser mittels zweier Transaktionen zu entrichten war, von denen nicht leicht zu sagen wäre, welche die fatalere gewesen ist: zum einen durch dasEindringen des Ressentiments in die Lehre von den Letzten Dingen, zum anderen durch die Verinnerlichung des Terrors in der christlichen Psychagogik.
Bevor wir diesen prekären Zonen nähertreten, soll der Versuch unternommen werden, die Zensur des Zeitgeistes zu lockern, aufgrund welcher heute Theologica aller Art aus dem Bereich der zwischen aufgeklärten Menschen ernsthaft diskutablen Dinge ausgeschlossen wurden. Die »Rede von Gott« ist in Europa bekanntlich seit mehr als hundertfünfzig Jahren vom Tischgespräch der guten Gesellschaft verbannt – allen periodisch zirkulierenden Gerüchten über eine Wiederkehr der Religion zum Trotz. Das Bonmot Flauberts in seinem Wörterbuch der Gemeinplätze zum Stichwort »Konversation«: »Die Politik und die Religion sind von ihr auszuschließen«, charakterisiert noch immer die gegebene Lage. 4 Man mag, soviel man will, von der »Revitalisierung« des Religiösen sprechen, die Wahrheit ist doch, daß aus dem faktisch weit verbreiteten Unbehagen in der entzauberten Welt noch lange kein neuer Glaube an außer- und überweltliche Dinge entspringt. Wenn Johannes Paul II . gelegentlich melancholisch bemerkte, die Menschen in Europa lebten so, als ob es Gott nicht gäbe, verriet er mehr Sinn für die realen Verhältnisse als die umtriebigen Kryptokatholiken im deutschen Kulturfeuilleton, die den Herrn in der Höhe am liebsten zum Aufsteiger des Jahres wählen würden.
Für die christliche Verkündigung gilt ganz speziell, daß sie im säkularen Raum seit längerem nicht mehr statthaft ist und was darüber hinausgeht: nicht mehr plausibel. Sie kann ihre Klientel nur noch in Spartenkommunikationen erreichen – warum nicht auch auf sekteneigenen Kanälen? Diese Aussage wird den Protest mancher Kirchenvertreter hervorrufen, die der Kirche nicht gern den Status einer Sparte auf dem Kommunikationenmarkt zuweisen lassen, als ob der Glaubean den Erlöser einer Liebhaberei wie dem Besuch von Horrorfilmen oder dem Züchten von Kampfhunden gleichkäme.
Weitere Kostenlose Bücher