Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Überlieferungen im Koran lassen wir hier ganz beiseite, weil sie, gemessen am Korpus der jüdischen und christlichen Aussagen, nichts wirklich Neues aufweisen. Wir können im vorliegenden Kapitel also nur einige wenige jener theologischen Wendungen verfolgen, die für die Entwicklung des Einen »Gottes« und der entsprechenden Gottesvölker zu Speichermedien des Zorns bedeutsam wurden. Die übrigen abundanten Hinweiseauf das göttliche Affektleben im euphorischen wie im dysphorischen Sinn gehen uns im gegebenen Kontext nichts an.
Es ist für Kenner und Laien eine Trivialität, daß die frühen Portraits Jahwes, des Herrn Israels, von handfesten Anthropomorphismen (besser
Anthropopsychismen) durchzogen sind. Jeder Bibelleser hat sich davon überzeugen können, wie noch der Gott des Exodus die Züge eines theatralischen
Wetterdämons mit denen eines dröhnend unbeherrschten warlords vereint. Entscheidend für alles Weitere ist freilich, auf welche Weise sich in dieses
primitiv-energetische, meteorologisch-militärische Gottesbild erste Merkmale einer überlegenen moralischen Aufsicht einprägen. Hierzu gehört die
Ausbildung einer retentionalen Funktion, die das Wegsinken der Vergangenheit ins schlechthin Vergangene – und mangels Gedächtnis Niegewesene – aufhalten
soll. Durch die göttliche Retention entsteht der erste Ansatz zu einer »Geschichte«, die mehr als die ewige Wiederkehr des Gleichen bedeutet – auch mehr
als den Wellenschlag des Größenwahns und des Vergessens, in dem die Imperien kommen und gehen. Der ideengeschichtliche Weg zum »allwissenden Gott«
verläuft über weite Strecken parallel mit dem Pfad, der zu dem Gott des guten Gedächtnisses führt. 6 Das Auftauchen und
die Verdeutlichung einer festhaltenden, zurückstellenden, aufbewahrenden und erinnernden Aktivität in Gott bezeichnet zugleich die Transformation seiner
Machtausübung vom eruptiven Stil zum richterlich-königlichen Habitus. 7 Für einen Gott, der hin und wieder in die Rolle
des Donnerers schlüpft, mochte der Zorn ein plausibles, doch beiläufiges Attribut darstellen. Für einen Gott, der als königlicher Richter in einer Aura
numinoser Majestät Achtung und Furcht einflößen soll, wird das Zürnenkönnen konstitutiv. Im Blickauf ihn wäre erstmals zu sagen: Souverän ist, wer glaubwürdig zu drohen vermag.
Durch die Herausarbeitung der Richterfunktion Gottes verändert sich das temporale Profil seines Wirkens: Wenn er in einer früheren Periode als Protektor seines Volkes oder als impulsiver Interventionist galt (man denkt an den Untergang des ägyptischen Heeres in den von Gott geschickten Hochwassern oder die Auslöschung des gesamten Menschengeschlechts bis auf Noah während der Sintflut), so zeichnete er sich zunächst durch seine standrechtlich vollzogenen Aufwallungen aus – in psychologischer Sicht würde man von momenthaften Dekompensationen sprechen. Zwischen dem Ärger Gottes über die sündige Menschheit bis zum Fallen des tödlichen Regens vergeht gerade ein Wimpernschlag. Allein das Wort von der Reue, die Gott empfand, die Menschen gemacht zu haben, deutet ein Mißverhältnis zwischen Erwartung und Erfüllung an – sofern Reue eine Modifikation des göttlichen Zeitgefühls impliziert. Die Situation ändert sich von Grund auf, sobald man die Schlußszene des Sintflutgeschehens in Betracht zieht. Hier richtet Gott mit dem Regenbogen ein für beide Seiten belangvolles Geduldsymbol auf, das seinen Willen zum Ausdruck bringt, eine solche Vernichtungshandlung solle sich nie mehr wiederholen, obschon die Menschheit nach der Flut, was ihre moralischen Profile angeht, sich von der vor der Flut nicht nennenswert unterscheiden wird. Rüdiger Safranski hat dies sehr treffend und mit respektvoller Respektlosigkeit in der Bemerkung resümiert, Gott habe sich durch die Sintfluterfahrung »vom Fundi zum Realo gewandelt«. Der Realo ist derjenige, der zugibt, alle verbesserungsbedürftigen Dinge brauchten Zeit – und welche Dinge wären der Verbesserung unbedürftig? 8
Infolge der Wendung zum richterlich-rächerischen Gottesverständnis werden an dem Herrn in der Höhe zunehmend die »retentionalen« Qualitäten hervorgehoben. Wie Intentionen auf Gegenwärtiges gehen, so Retentionen auf Gewesenes und Prätentionen auf Kommendes. Die königlich-archivarischen und justitiellen Kompetenzen Gottes treten von nun an machtvoll ins Profil. Sie schließen die Fähigkeiten ein, sich Recht und Unrecht zu
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