Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Dieser Vorbehalt ist gut verständlich, ändert jedoch wenig an dem subkulturellen Daseinsmodus der christlichen Sache. Worum es hier geht, ist ohnehin nicht mittels soziologischer oder statistischer Erhebungen auszudrücken. Die Befremdlichkeit des Evangeliums für das Publikum von heute reicht weit über das Zugeständnis des Paulus hinaus, die Rede vom Christus sei für die Juden ein Ärgernis und für die Griechen eine Torheit. Jenseits von Torheit und Ärgernis bezeichnet Peinlichkeit die Seinsweise des Religiösen in heutiger Zeit. Seit geraumer Weile hat sich das religiöse Empfinden in die Intimzonen der Psyche zurückgezogen und wird als das eigentliche Pudendum der Modernen wahrgenommen. Der Mensch nach der Aufklärung müßte eine breite Schwelle aus Verlegenheiten überqueren, um ernsthaft noch von der Frage nach »jenem höheren Wesen, das wir verehren« berührt zu werden. Theologen reagieren auf diese Situation gern mit dem tiefschürfenden Hinweis, der moderne Mensch lebe eben in der »geschichtlichen Situation der Gottesferne«. Doch schon das Wort ist falsch gewählt. Das Problem zwischen Gott und den Heutigen liegt nicht darin, daß sie ihm zu fern wären. In Wahrheit müßten sie zulassen, daß er ihnen zu nahe träte, sollten sie seine Angebote ernst nehmen. An keiner Eigenschaft des Gottes der Theologen läßt sich das besser zeigen als an der peinlichsten unter allen: seinem Zorn.
Dies vorausgeschickt, dürfte die folgende These einleuchten: Die scheinbar beweiskräftigste Manifestation eines neuen Gewichts der Religion, ja einer neuen Religiosität als solcher – die Aufmerksamkeit des Weltpublikums auf das Sterben des Papstes Johannes Paul II . und die Wahl seines Nachfolgers Benedikt XVI . im April 2005 –, hatte im Grunde nur sehr wenig mit der religiösen Seite der Wachablösung im Amt des heiligen Petrus zu tun. De facto ging die Faszination überwiegend, wenn nicht ausschließlich, von denprunkvollen römischen Liturgien aus, die sich auf Relikte des imperialen und caesarischen Mythos stützen. Ohne sich in klaren Begriffen davon Rechenschaft zu geben, spürten die Massen wie die Medien beim gegebenen Anlaß, in welcher Weise die persönliche Aura des Papstes noch immer das Amtscharisma des Caesars ausstrahlt. Wer das Pontifikat Johannes Pauls II . aufmerksam beobachtete, mußte wissen, daß in den von ihm klug aktualisierten Papstkult der Mediencaesarismus das prägende Merkmal gewesen war. Allen Beteuerungen mystischer Intensität zum Trotz war immer evident, wie die christliche Botschaft die religiöse Form zum caesarischen Inhalt lieferte. Allein des letzteren wegen konnte die Roma aeterna während einiger Wochen als der erfolgreichste content provider für alle weltlichen Netzanbieter auftreten. Doch was beweist das anderes, als daß die Kirche Siege auf dem Feld des Kampfs um Aufmerksamkeit nur erzielt, wenn sie ein im weltlichen, tragischen und spektakulären Sinn mißdeutbares Programm vorstellt? Jedoch handelt es sich wirklich nur um ein Mißverständnis, wenn sich die »Schauspieler Gottes« wieder vordrängen? Da der Katholizismus, als römischer, in letzter Instanz noch immer mehr Imperium – genauer Imperiumkopie – als Kirche ist, kann bei seinen Haupt- und Staatsaktionen die Peinlichkeit der religiösen Rede in den Hintergrund treten, um die Bühne ganz dem seigneuralen Apparat zu überlassen.
Es bleibt dabei: Im nach-aufgeklärten Klima ist »Gott« präzise dasjenige Thema, das unter allen Umständen kein Thema sein kann – verstreute Sonderhefte elitärer Kulturzeitschriften ausgenommen. Erst recht ist ein öffentlicher Diskurs über »Eigenschaften« des unmöglichen Gegenstands undenkbar. Noch unmöglicher, falls da ein Komparativ statthaft ist, wäre die Forderung, sich einen zornigen Gott oder gar einen Gott der Rache vorzustellen – ausgerechnet in einer Zeit, in der schon ein konvivialer Gott eine matte Hypothese darstellt. Aber eben mit dieser unpopulären Gestalt – wirwollen sie vorläufig als »Denkfigur« bezeichnen – müssen wir uns befassen, um die Genesis der modernen Zornwirtschaft auf den Vorstufen ihres Ausbaus zu einem förmlichen Bankwesen zu begreifen.
Die jüngste Gelegenheit, die Begriffe »Gott« und »Rache« in aktueller Konfiguration miteinander auftreten zu sehen, bot die Debatte über den neuen religiös-politischen Fundamentalismus, dessen verstärkte öffentliche Sichtbarkeit in die späteren achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts
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