Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
fällt. Ein signifikanter Buchtitel aus jener Zeit lautete: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch , erschienen in München, 1991. Das französische Original war zwei Jahre zuvor unter der Überschrift La revanche de Dieu auf den Markt gekommen. Sein Untertitel sprach nicht bloß von einem Vormarsch, sondern geradewegs von einer reconquête du monde – mit Anklang an das historische Muster der Reconquista. Der Verfasser des Buches, Gilles Kepel, seither eine der meistgefragten Stimmen in Sachen Kultur und Politik des Nahen Ostens, untersucht darin die Strategien radikalmonotheistischer Mobilmachungen in diversen Weltgegenden. Der orientalistische Aspekt des Themas erscheint hier noch in eine ökumenische Wahrnehmung der alten und neuen Fanatismen eingebettet.
Unüberhörbar ist der ironische Ton der Wendung revanche de Dieu . Der Autor läßt keinen Zweifel daran, daß er über seine Gegenstände ausschließlich mit den Mitteln des Zeitdiagnostikers und Kulturwissenschaftlers handelt. Spricht er von der »Rache Gottes«, ist kein positiver Bezug auf die Theologie des zornigen Gottes im Spiel. Im Zentrum der Untersuchung steht die Rückkehr militanter religiöser Gruppen auf die politische Weltbühne, Gruppen, deren Auftauchen man inzwischen als »fundamentalistische Reaktionen« zu deuten gewohnt ist – wenn man so will: als Rache aufgeregter Religionsmilieus am dominierenden Säkularmilieu. In chronologischer Sicht beginnt die Revueder Fundamentalismen mit dem Auftritt der evangelikalen Fundamentalisten in den USA , die hartnäckig das Weltbild der modernen Naturwissenschaften als Teufelswerk denunzieren und die ihren Einfluß auf die amerikanische Gesellschaft seit Jahrzehnten ausweiten; sie setzt sich fort bei den ultraorthodoxen Juden Israels, die ihren säkularen Staat lieber heute als morgen in eine Rabbinokratie umgewandelt sähen und deren Agitationen von keiner Regierung mehr ganz vernachlässigt werden können; sie endet unvermeidlich mit den neueren islamistischen Phänomenen. Zwar zeigen die Islamisten wie ihre christlichen Gegenstücke einen Zug zur militanten Bigotterie – vor allem sind die Anklänge an die Kampf- und Trotzjahre des römischen Katholizismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert unübersehbar –, doch fügen sie ihren politischen Auftritten ein neues Element hinzu. Sie greifen den überlieferten Islam als Ready-made auf, um ihn in einem terroristischen Reklamefeldzug durch die Weltöffentlichkeit nach eigenem Gutdünken zu instrumentalisieren. Was Marcel Duchamp für die Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts geleistet hat, wiederholt Osama Bin Laden, unterstützt von seinen Religionstechnikern, für den Islam im späten 20. Jahrhundert. Die Bedeutung des Ready-made-Verfahrens für die moderne Kulturökonomie hat Boris Groys in subtilen Analysen dargelegt – Analysen, deren Nachvollzug durch die aktuellen Kulturwissenschaften erst am Anfang steht. 5 Beim Islam ergibt sich aus dem subversiven Umgang mit der heiligen Überlieferung, daß die traditionelle Autorität der Ulema, des Rats islamischerSchriftgelehrter und Juristen, von der putschistischen Faszination religiöser Freibeuter (die sich vor allem des Internets bedienen) untergraben wird.
Diese »Rache Gottes« – durch politische Surrealisten, Terroristen und Eiferer aller Couleurs in die eventhungrigen Medien der westlichen Unterhaltungsgesellschaften lanciert – bildet jedoch, wie wir zeigen werden, nur ein halb komisches, halb makabres Nachspiel zu mehrtausendjährigen theologischen Traditionen, in denen im wohlerwogenen Ernst einer nach allen Seiten durchreflektierten Disziplin von dem Zorn Gottes und seinem Eingreifen in die menschlichen Angelegenheiten, historisch und endzeitlich, die Rede war. Mit der Erinnerung an Überlieferungen dieses Typs beginnt für uns der Abstieg in die ideengeschichtlichen Katakomben. In ihnen bewegen wir uns auf den folgenden Seiten, nicht ohne hin und wieder von der Empfindung berührt zu werden, die grinsenden Schädel in den Wandnischen trügen die Züge von Personen der Zeitgeschichte.
Der Zornkönig
Naturgemäß können uns die zahllosen Hinweise des Alten Testaments auf die Figur des zornigen Gottes hier nur in einer stark beschränkten Perspektive interessieren. Auch die neutestamentlichen Quellen und die der späteren katholischen Dogmatik sind bloß selektiv und unter einem engen Blickwinkel zu konsultieren. Die Reflexe dieser
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