Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
autoplastischen Effekte der kollektiven Rezitation (beziehungsweise der Anhörung des Vorlesers oder Vorsängers) und rekonstituiert sich dabei selbst als Sender/Empfänger der kämpferisch-zornigen Botschaft.
Genealogie des Militantismus
In unserem Kontext ist an diesen Beobachtungen allein relevant, daß in Gestalt der jüdischen Feindpsalmen (denen in jüngerer Zeit bemerkenswerte Versuche rettender Auslegung gewidmet worden sind 15 ) ein herausragendes Zeugnis für die Urgeschichte des Phänomens Militanz vorliegt. Wer eine breit ausgreifende Genealogie des Militantismus unternehmen wollte, müßte zunächst auf die Eigendynamik verliererpsychologischer Binnenkommunikationen eingehen. An solchen ist ablesbar, wie die Unterlegenen in historischen Konfrontationen zwischen Völkern, Imperien oder ideologischen Fraktionen ihre Niederlagen zu Überlebensprogrammen umarbeiten – unter diesen kehren Attitüden verschobener Überheblichkeit so regelmäßig wieder wie die Figur der vertagten Hoffnung und der Traum von einer finalen Revanche.
Das Phänomen des Verlierers, der zu seiner Niederlage eine abweichende Stellungnahme abgibt, ist offensichtlich so alt wie das der politischen Spiritualität. Für diese Figur, und ihre nichtreligiösen Nachfolgefiguren, hat sich im20. Jahrhundert der Begriff Widerstand eingebürgert – wer nicht weiß, was résistance bedeutet, hat mit dem Geist der Linken nichts zu tun. Im westlichen Zivilisationskontext reichen die Zeugnisse hierfür zumindest bis in die Theologie des exilischen und postexilischen Judentums; seine jüngsten sind beinahe zeitgenössisch – sie lassen sich in den Schriften marxistischer und postmarxistischer Romantiker beobachten, für die ausgemacht ist, daß der Kampf insbesondere dann weitergeht, wenn alles verloren ist. An ihrer sichtbaren Spitze steht in unseren Tagen ein flammender Veteran wie Antonio Negri, der mit seinen suggestiven Sondierungen im Feld der sogenannten multitude einen Regenbogen aus Mikrooppositionen über die vorgeblich vom Kapitalismus in ein einziges Imperium integrierte Erde ausbreiten möchte.
Für die Konfiguration von Zorn und Zeit liefert der Militantismus, alten und neuen Datums, einen der wichtigsten Schlüssel, weil mit seinen ersten Ausformungen die effektive Geschichte der kumulativen Zorngedächtnisse einsetzt. Er gehört daher zur Urgeschichte dessen, was Nietzsche das Ressentiment genannt hat. Dieses beginnt sich zu formieren, wenn der rächerische Zorn am Direktausdruck gehindert wird und den Umweg über einen Aufschub, eine Verinnerlichung, eine Übersetzung, eine Entstellung nehmen muß. Überall dort, wo Rückschlagsgefühle dem Zwang zur Vertagung, Zensurierung und Metaphorisierung unterworfen sind, bilden sich lokale Zornspeicher, deren Inhalt allein zu späterer Ausleerung und Rückübersetzung aufbewahrt wird. Die Zornaufbewahrung stellt die Psyche des gehemmten Rächers vor die Herausforderung, den Rückstau des Zorns mit dessen Bereithaltung für einen ohne Termin vertagten Zeitpunkt zu verbinden. Dies läßt sich nur erreichen kraft einer Verinnerlichung, die sich auf geglückte Veräußerlichungen stützt. Wie so etwas gelingt, zeigt die postbabylonische jüdische Gebetskultur, bei welcher der Rachewunsch gleichsam innig wird und bis in die intime Zwiesprache der Seele mitGott vordringt. Gleichzeitig objektivieren sich die Muster solcher inneren Dialoge in einer Textsammlung und werden über Generationen tradierbar.
Im übrigen ist in den jüngeren Verteidigungen der Feindpsalmen durch katholische Theologen die Tendenz zu konstatieren, das jüdische Gebet und die freie Assoziation auf der psychoanalytischen Couch in Analogie zu setzen. Das naheliegende Zensurbedürfnis wird von diesen Autoren mit dem Argument zurückgewiesen, die offen ausgesprochenen Vernichtungswünsche besäßen einen Wahrhaftigkeitswert, der für eine produktive therapeutische Beziehung zeugt – mit Jahwe als dem Analytiker und Supervisor. Man dürfe also den Geknechteten ihre Rufe nach Rache und ihre heftigen Anklagen gegen die Vergewaltiger nicht nehmen, heute so wenig wie in antiker Zeit, da schon »die Bibel, das geoffenbarte Wort Gottes, (diese) ihnen in den Mund legt«. 16
Bei der Feind- und Fluchpsalmengruppe des Psalters kann man von einer authentischen Zornschatzbildung sprechen. Ein Schatz ist ein Wertvorrat, der angehäuft wird, damit man in Zeiten des Mangels auf ihn zurückgreifen kann. Aus ihm schöpfen heißt das
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