Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sich tief in die religiöse Überlieferung der westlichen Zivilisation eingeprägt. Beide bleiben ohne die Annahme einer Zornschatzbildung unverständlich. Kraft deren eigensinniger Dynamik kommt es zu einem Strukturwandel des Opferzorns, der sich in Dauerressentiment umbildet. Diese Transformation sollte für die spezifische Stimmung der altabendländischen Religion, Metaphysik und Politik eine nicht leicht zu überschätzende Bedeutung erlangen.
Für die Zornschatzbildung während des babylonischen Exils und der folgenden Zeiten bieten die Schriften des Alten Testaments reichliche Evidenz, in teils sublimen, teils massiven Artikulationen. Auf der erhabenen Seite ist vor allem die in babylonischer Zeit formulierte und erst nachbabylonisch in die Heilige Schrift aufgenommene Genesiserzählung zu notieren, von der man zu Unrecht annähme, sie habe seit jeher den logischen Anfang des jüdischen Kanons bilden müssen. Sie ist in Wahrheit das Ergebnis eines relativ späten theologischen Überbietungsmanövers, mit dem die spirituellen Wortführer Israels in der erzwungenen Exilsepoche für ihren Gott die kosmische Überlegenheit gegen die Götter des dominanten Imperiums in Anspruch nahmen. Was auf den ersten Blick wie ein gelassener Bericht über die Ersten Dinge erscheint, ist in Wahrheit das Resultat einer konkurrenztheologischen Redaktionsarbeit, deren Sinn darin liegt, den Gott der politischen Verlierer als den Sieger a priori ins Licht zu rücken. Mögen demnach die heidnischen Könige, unterstützt von ihrer polytheistischen Entourage, über ihre Territorien und Sklavenvölker befehlen, keiner ihrer Erlasse wird die Ebene des wahrhaft göttlichen »Es werde« auch nur von ferne berühren. Durch das triumphale Kampftheologoumenon Genesis hat die jüdische Theologie ihren subtilstenSieg über die Gotteslehren der mesopotamischen Imperien gefeiert.
Was die weniger sublimen Ausgestaltungen biblischer Zornakkumulation angeht, so begnügen wir uns damit, einen kurzen Blick auf die berüchtigten Fluchpsalmen und Feindvernichtungsgebete aus dem Psalter des Alten Testaments zu werfen, jener Sammlung von 150 exemplarischen Hymnen, Lobpreisungen und Gottesanrufungen, die seit über zweitausend Jahren den Juden wie den Christen als Primärquelle ihrer Gebetskulturen dienen. Dieses Textkorpus bildet einen spirituellen Schatz, der den Vergleich mit den erhabensten Dokumenten der religiösen Weltliteratur nicht zu scheuen braucht. Obschon seine einzelnen Stücke durchwegs im Modus des Gebets und eo ipso im Habitus eines nicht-theoretischen Gottesbezugs formuliert sind, weisen sie in psychologischer, theologischer und weisheitlicher Hinsicht singuläre spirituelle Reichtümer auf – wie die große Auslegungsgeschichte seit den Enarrationes in Psalmos des Augustinus bis zu den Studien von Hermann Gunkel und Arnold Stadler bezeugt. Der Psalm 139, um ein Zeugnis auszuwählen, gehört zum Bewegendsten und Tiefsten, was je über das Umgebensein der menschlichen Existenz von einem schöpferischen Milieu und das Umgriffenwerden des menschlichen Bewußtseins von einem Wissen höherer Ordnung festgehalten wurde. Hinsichtlich seiner latenten metaphysischen und existentiellen Einsichten braucht dieser lyrische Text gegenüber keinem Zeugnis spekulativer Einsicht indischer oder chinesischer Herkunft zurückzutreten. Nichtsdestoweniger wird ausgerechnet diese Meditation von einem Racheappell zerrissen, dessen Heftigkeit im Kontext religiöser Literatur ihresgleichen sucht. Zunächst vergegenwärtigt sich der Beter seine eigene Erschaffung:
15a Nicht waren verborgen meine Glieder vor dir,
15b als ich im Geheimen geschaffen wurde.
15c Kunstvoll wurde ich gewoben in den Tiefen der Erde,
16a mein Werden sahen deine Augen.
16b Und in dein Buch sind sie alle geschrieben,
16c meine Tage, ehe sie gebildet wurden, als noch keiner von ihnen da war!
Unmittelbar darauf wendet sich die Meditation den Feinden des Beters zu. Auf sie richtet der Fromme unablässig seine Aufmerksamkeit aufgrund eines doppelten »Beziehungszwangs«: zum einen, weil ihm der Feind als unumgehbarer politischer Gegner vor Augen steht, im aktuellen Fall als der babylonische Zwingherr, zum anderen, weil der politische Feind auch einen religiösen Gegner darstellt, sofern er sich die Freiheit gestattet, an seinen kultureigenen Göttern oder Götzen festzuhalten und der jüdischen Monolatrie mit Verachtung zu begegnen. Beide Aspekte dieser Front sind gegenwärtig, wenn das
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