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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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der Täter. 12 Daraufhin macht Gott dem Kain ein Zeichen, »damit ihn keiner erschlage, der ihn finde«.
    Religionshistoriker assoziieren das Kainsmal mit den Warnzeichen eines altorientalischen Stammes, in dem die strengste Blutrache üblich war. Es signalisiert: Wer gegen den Träger des Zeichens die Hand erhöbe, müßte darauf gefaßt sein, daß er und die Seinen siebenfacher Rache verfallen. Unter Kains Nachkommen eskaliert die Rachedrohung zu grotesken Zahlenspielen. Sein Urgroßenkel Lamech verkündet heroisch: »Einen Mann erschlage ich für eine Wundeund einen Knaben für eine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.« 13
    Die explodierenden Zahlen drücken eine ambivalente Lage aus: Zwar ist das Kainsmal als Zeichen eines generellen Racheverbots lesbar; für die Überschreitung des Verbots wird gleichwohl exzessive Vergeltung angedroht. Wird einerseits die Rache suspendiert, steht für den Fall der Mißachtung dieses Gebots eine extreme Rache in Aussicht. Dieses Paradox läßt sich nur als Symptom für das Fehlen eines effektiven Gewaltmonopols verstehen. Wo noch keine zentrale Strafautorität existiert, ist das Racheverbot – versuchsweise – nur mittels einer exzessiven Reaktionsdrohung einzuschärfen. Man muß auf die Einführung einer stabilen Rechtskultur mit förmlichem Gerichtswesen warten, bevor die bekannten talionischen Gleichungen zum Zuge kommen können: »Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.« ( Exodus 21, 23-25) Die Gleichheitszeichen zwischen der linken und der rechten Seite der Formeln drücken aus, daß Gerechtigkeit künftig als Angemessenheit begriffen werden soll. Das Maß setzt einen Maßhalter voraus, in der Regel den frühen Staat als Rechtsgaranten.
    Wenn das Strafmaß direkt und materiell vom verübten Unrechtsleid abgelesen wird, entsteht ein Konzept von Gerechtigkeit als einfacher Äquivalenz. Der
     Steigerungszwang bei der Vergeltung kann somit entfallen. Statt des barocken Eins-zu-Sieben oder -Siebenundsiebzig gilt künftig das erhaben schlichte
     Eins-zu-Eins. Um die maßhaltende Vergeltung zu sichern, ist starke richterliche Autorität vonnöten, wie sie sich fürs erste nur in einer starken
     Königsherrschaft verkörpert. Mögen moderne Beobachter ein solches System, gewissermaßen eine Naturalienwirtschaft der Grausamkeiten, für primitiv und
     unmenschlich halten, bleibt doch zubedenken, daß mit den mosaischen Verordnungen ein Schritt zur Rationalisierung der Vergeltungskalküle vollzogen war. Das Gleichheitszeichen zwischen Unrechtswert und Vergeltungswert besitzt zudem einen impliziten zeitlichen Sinn, da die Dinge erst wieder ins Lot geraten können, wenn die Äquivalenz zwischen Tatleiden und Strafleiden hergestellt ist. Das Warten auf Gerechtigkeit färbt nun den Sinn von Zeit. Durch die von der Justiz erwirkte Gleichung zwischen Schuld und Strafe werden, zumindest in idealtypischer Betrachtung, lokale Zornspannungen beim Opfer oder Kläger aufgelöst. Wenn danach die Sonne aufgeht, scheint sie zwar wie immer über Gerechte und Ungerechte, ihr Aufgang begleitet zugleich den Neuanfang zwischen Parteien, die ihre Rechnungen beglichen haben.

Ursprüngliche Akkumulation des Zorns
    Ganz anders stellt sich die Sachlage dar, wenn Unrechtsleiden sich einseitig akkumulieren, ohne daß ihren Opfern ein effektiver modus operandi zur Wiederherstellung des Gleichgewichts zur Verfügung steht. Dann bilden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit chronische Zornspannungen, die sich zu einer Art von negativem Vermögen ansammeln. Für diese Möglichkeit bietet die alttestamentliche Überlieferung mindestens zwei folgenschwere Exempel an. Das erste verbindet sich mit den Erinnerungen Israels an die babylonische Verschleppung im 6. Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, für die das Wort »Exil« ein obertonreiches Symbol bildet; das zweite deutet auf den Komplex der jüdischen Apokalyptik, die vom 2. vorchristlichen Jahrhundert an zu einer Verschärfung des Prophetismus führen sollte. In seiner exzessiven Übersteigerung ging dieser bis zur Forderung nach der Vernichtungsrache Gottes am unheilbar korrupten Weltbestand im ganzen.
    Sowohl die mentalen Sedimente des israelischen Exils als auch die apokalyptischen Zuspitzungen des prophetischen Antiimperialismus (der sich zunächst gegen hellenische, dann römische Fremdherrscher wandte) haben

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