Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Gebet jäh in den heftigsten Fluch übergeht:
19a Wenn du doch tötetest, Gott, den Frevler!
19b »Ihr Blutmänner, weichet von mir!«
20a Sie nennen dich zu Trug,
20b erheben deinen Namen zu Nichtigem, sind deine Gegner.
21a Hasse ich nicht, die dich hassen, JHWH ?
21b Und verabscheue ich nicht, die sich wider dich empören?
22a Ja, mit allem Haß hasse ich sie:
22b mir zu Feinden sind sie geworden. 14
Man würde diese in Verse gebundene Feinderklärung völlig mißverstehen, wollte man in ihnen eine spontane Eruption herrschaftskritischer Affekte vermuten. Sie bilden nur einen von vielen Knoten in einem Gedächtnisnetz, in dem Erinnerungen an Mißhandlungen und Demütigungen festgehaltenwerden; in demselben Netz werden expressive Vergeltungsregungen in rezitierbaren Formen stabilisiert. Die Eingangswendung des 94. Psalms: »Gott, des die Rache ist, erscheine« (nach der unrevidierten Lutherfassung), könnte leitmotivisch als Führer durch einen großen Teil des Psalmenbuchs dienen. Sie kehrt, neben vielen anderen Stellen, im 44. Psalm (6a,b) wieder, wo es, an die Adresse des Bündnisgottes gerichtet, heißt: »Mit dir stoßen wir unsere Bedränger nieder, mit deinem Namen zerstampfen wir unsere Widersacher«; sodann (24a,b): »Wach doch auf! Warum schläfst du, Herr? Erwache doch! Verstoß uns nicht für immer!« Ihre massivste Zuspitzung erreicht die Rhetorik des Rachegebets im 137. Psalm, an dessen Schluß sich die Verse finden:
8a Tochter Babel, du Gewalttätige:
8b Selig, wer dir vergilt
8c deine Taten, die du uns angetan!
9a Selig, wer ergreift und zerschmettert
9b deine Kinder am Felsgestein.
Man hat es hier mit einer Kunstgestalt polemischer Gebetswendungen zu tun, die dem modernen Religionsverständnis befremdlich erscheint. Gleichwohl öffnen sie sich dem Nachvollzug, wenn man solche Formulierungen in einen Kontext übersetzt (besser: zurückbettet), den man in heutiger Sprache »psychologische Kriegführung« nennen würde. Da das alte Israel über lange Perioden in chronischen Kriegsspannungen lebte, war seine Religion unvermeidlich auch eine der Front. Da Kriegführung immer eine psychosemantische Seite entwickelt, liegt deren Ausarbeitung und Niederschrift bei den religiösen Führern – sofern Religion und Psychosemantik konvergieren. Die heftigen Psalmwendungen sind darauf angelegt, die psychopolitische Unwahrscheinlichkeit des Überlebens Israels in einer Zeit der Niederlagen zu kompensieren.
Daraus erklärt sich die zunächst bestürzende Beobachtung, wonach auch Gebete Polemiken sein können. Nichtweniger befremdend und doch psychodynamisch plausibel wird dann auch die Tatsache, daß selbst die Meditation zum Propagandamittel sich eignet. Bei ihrer Einkehr in sich entdecken die Betenden ihren Haß und vertrauen ihn ihrem Gott an, damit er aus ihm die richtigen Konsequenzen ziehe – martialische vor allem, wie sich aus den gegebenen Umständen versteht. Am deutlichsten tritt die autoplastische Funktion des Gebetsappells in Erscheinung, wenn sich die betende Gruppe in die Ausmalung von Vernichtungswunschbildern steigert, bei denen der Oppressor als überwundene Macht am Boden liegt. Dies zeigt besonders der im problematischen Sinn unvergleichliche Fluchpsalm 58:
7a Gott, zermalme ihnen die Zähne im Maul,
7b das Gebiß der Löwen zerkrache, JHWH !
8a Sie sollen vergehen wie Wasser, die sich verlaufen,
8b sie sollen verdorren wie Gras, das man zertritt,
9a wie die Schnecke, die im Schleim dahingeht,
9b wie einer Frau Fehlgeburt, die die Sonne nicht schaut.
10a Ehe sie Stacheln treiben wie ein Dornstrauch:
10b ob frisch, ob verbrannt, es wehe ihn weg!
11a Es soll sich freuen der Gerechte, wenn er die Rache schaut,
11b wenn er seine Füße badet im Blut des Frevlers.
Man könnte solche Figuren ihrer Funktion nach als Endopropaganda beschreiben. Obwohl sie auf den ersten Blick nichts anderes als hate speeches vortragen, zielen sie, ihrer effektiven Dynamik nach, nur mittelbar auf den realen Feind. Vermutlich hat kein Babylonier je von den unfreundlichen Phantasmen der jüdischen Sklaven Kenntnis genommen; nach psychologischem Ermessen dürfte auch kaum ein Angehöriger der Feindvölker aufgrund solcher Haßgebete physisch zu Schaden gekommen sein. Die Bedeutung dieser verbalen Kraftakte liegt so gut wie ausschließlich in ihrer Rückwirkung auf das sprechende Kollektiv. Indem die bedrängteGruppe an den religiösen Fluchsprachspielen teilnimmt, mobilisiert sie die
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