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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Paradigma zusammenbrach und durch ein völlig neuartiges Konzept ersetzt wurde.
    Dies geschah in der zweiten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, als die vorderorientalische Welt, das alte Israel inbegriffen, dem Herrschaftsbereich der hellenistischen Despotien – auch als Diadochenreiche bekannt – einverleibt worden war, die auf die zerfallende Improvisation des Alexanderreiches folgten. Zur Zeit der seleukidischen Herrschaft über Israel wurde die Unzulänglichkeit der prophetischen, moralistisch-autoaggressiven Unglücksverarbeitung so offenkundig, daß unvermeidlich nach neuen Wendungen im Umgang mit dem bedrängenden Elend gesucht werden mußte. Die erste bestand in der Entwicklung einer massiven militärischen Résistance, die an den Namen der Makkabäer geknüpft ist (die zugleich den Terror gegen Kollaborateureaus dem eigenen Volk einführten), die zweite in der Hervorbringung eines radikal neuen Schemas zur Auslegung der Weltgeschichte, für das man bis heute den Begriff Apokalyptik einsetzt.
    Wo apokalyptische Denk- und Empfindungsformen die Bühne erobern, verliert die Anteilnahme der um ihr Heil besorgten Menschen an den politischen Turbulenzen ihres Volkes jeden Sinn, da nach der Überzeugung der neuen Schule die Weltzeit im ganzen in eine eng befristete Schlußphase eingetreten ist. In einer solchen Endzeit wird der prophetische Moralismus gegenstandslos. Es wird keine Zukunft mehr geben, in der sich der Gläubige um seine Läuterung bemühen könnte; es wird keine Nachkommen mehr geben, an welche die Lehre zu übermitteln wäre; es wird keine Feinde mehr geben, gegen die man sich als Volk behaupten müßte.
    Tatsächlich ist für die größere Geschichte des Militantismus das zweite Jahrhundert vor Christi Geburt als Schlüsselära anzusehen, weil seit damals der Geist der radikalen Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen vor einer prinzipiell gleichbleibenden Wahl steht. Seit jener Achsenzeit der Dissidenz verfügen die Zornigen über die epochale Alternative zwischen der makkabäischen und der apokalyptischen Option, kurz gesagt: zwischen dem säkularen antiimperialen Aufstand und der religiösen oder parareligiösen Hoffnung auf den Gesamtuntergang der Systeme – eine Alternative, der die Moderne nur einen, allerdings entscheidenden, dritten Wert hinzugefügt hat: den der reformistischen, auf mittlere Zeitspannen ausgelegten Überwindung historisch gewachsener Mißstände durch die Anwendung liberaldemokratischer Prozeduren. Es erübrigt sich zu erklären, warum die dritte Option die einzige auf Dauer aussichtsreiche Zivilisierungsstrategie darstellt.
    Unter dem Gesichtspunkt der Zornschatzbildung ist der vorchristliche Apokalyptizismus in dreifacher Weise von großem Gewicht: Zum einen löst er die herkömmliche politischeTheologie des Gotteszorns auf, die auf der Gleichung zwischen Bundesvolkgeschichte und Strafgerichtsgeschichte beruhte. Zum anderen verschiebt er die akkumulierten Zornmengen aus dem Archiv Gottes in die Machtzentren der Politik zurück – weswegen bei den angekündigten Greueln der Endzeit die irdischen Wutagenturen gegeneinander rasen, bis Weltvernichtung und Selbstvernichtung vollständig ineinanderfallen (hier taucht der Sache nach die Idee des »Weltkriegs« auf). Schließlich bringt er über der irdischen Konfliktebene eine reich gegliederte Zwischenzone von Engelmächten und Dämonen in Ansatz, die jenseits der menschlichen Endzeitkombattanz einen subtilen Weltkrieg in den Lüften führen.
    An den Fronten dieses höheren Krieges betritt jener rebellische Hochmutsengel, Satan, Luzifer, Iblis oder wie er sonst heißen mag, die ideengeschichtliche Bühne, um sich für die folgenden anderthalb Jahrtausende eine Hauptrolle zu sichern. Wir begnügen uns hier mit der Bemerkung, daß die Geburt des Teufels aus dem Geist der apokalyptischen Dämonenkämpfe für die künftige Geschichte der Zornagenturen entscheidend werden sollte. Durch sein Erscheinen verändert sich die Topologie des Jenseits auf die folgenreichste Weise. Wo es Teufel gibt, können deren Residenzen nicht weit seit. Wenn Teufel sich einrichten, entstehen Höllen – anders gesagt, Schuldarchive, in denen Zornmengen und Racheimpulse zur ständigen Wiederholung aufbewahrt werden. Dantes Genie verdanken die Europäer die Einsicht, daß in diesem Regime Archiv und Hölle ein und dasselbe sind. Jeder Schuldige wird dort in seiner eigenen Akte auf ewig lebend verbrannt.
    Durch die

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