Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
aufgesparte Leiden von gestern zur heutigen Neuverwendung wieder hervorholen. Wenn eine solche Schatzbildung ihren Zweck erfüllt, läßt sich verblassender Zorn aus den angesammelten Ersparnissen reanimieren.
Um die hier beschriebene Schatzbildung zu würdigen, gilt es, sich bewußtzumachen, daß sie sich unter keinen Umständen auf die menschliche Ebene und ihre sterblichen Gedächtnisse beschränken kann. Das von den Eiferern eingerichtete Zorndepot ist nicht nur in den Erinnerungen der Rachewunschträger niedergelegt; es wird auch nicht allein in den entsprechenden Textsammlungen dokumentiert. Entscheidend ist vielmehr der Gedanke eines transzendentenArchivs parallel zu den unvermeidlich lückenhaften irdischen Sammlungen, in dem minutiös über Taten und Untaten der Juden und ihrer Feinde Buch geführt wird. Von dem jüdischen Gott, den die nachbabylonische Theologie, wie bemerkt, sowohl schöpfungskosmologisch als auch politisch-moralisch weit über die Götter der Imperien ringsum hinaushob, wird demnach mit aller Bestimmtheit erwartet, daß er in seiner Eigenschaft als Richter, und in dieser Rolle auch als Archivkönig, über vollständige Akteneinsicht in bezug auf alle Einzelleben verfügt, namentlich die Leben der Frevler und der hochmütigen Feinde. Auf diese Weise kann das empirische Zorndepot, die nationale traumatische Erinnerung samt ihren Racheforderungen, an das transzendente Archiv, das göttliche Unrechtsgedächtnis, gekoppelt werden. Das für die Religion des Alten Bundes typische Pathos der Treue drückt also nicht nur die Erfahrung aus, wonach die Allianz zwischen Gott und Volk von jeder Generation neu zu verinnerlichen ist; es unterstreicht zugleich die Forderung, alte Schulden nicht zu vergessen, solange sie ungetilgt im Buch der Rache eingetragen sind.
Hyperbolischer Zorn: Jüdische und christliche Apokalyptik
Wie auch immer die beiden korrelierten Zornschatzbildungen im Universum des postbabylonischen Judentums unter psychologischen, soziologischen und psychopolitischen Gesichtspunkten beurteilt werden mögen (um für den Augenblick die Frage nach ihrer spirituellen Evaluierung beiseite zu setzen): Es wird sich kaum in Abrede stellen lassen, daß sie aufgrund ihrer offensiven, expressiven, autoplastischen und militanzdynamischen Wirkungen das Überleben Israels in einem Zeitalter chronischer Bedrängnisse mit ermöglicht haben. Sie bilden die Grundlage dafür, warum das Religionsvolk par excellence zugleich zum Träger einer komplexen Weisheit des Zorns, falls der Ausdruck gestattet ist, hat werden können – und darüber hinaus, vom Anbruch der christlichen Ära an, neben Griechenland zur bedeutendsten Exportnation für zornverarbeitende Systeme.
Die Grundoperation der prophetischen Unglücksdeutung: die Zurückführung des manifesten jüdischen Elends in politischen Bedrängniszeiten auf den Straf- und Läuterungszorn Jahwes, mußte jedoch vorhersehbarerweise früher oder später an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stoßen. Selbst auf ihrem Höhepunkt, in der Ära des Schriftprophetentums und in den babylonischen und postbabylonischen Notzeiten, war ihr Erfolg stets an prekäre psychosemantische Operationen gebunden. Eine chronisch zwischen Hoffnung, Schrecken und Verzweiflung oszillierende Atmosphäre warvorauszusetzen, um den wenig plausiblen, zur Maßlosigkeit neigenden, strukturell masochistischen Deutungen der Propheten spirituelle Akzeptanz zu schaffen. Der Preis für das Verständnis der oft genug niederschmetternden Schicksale Israels als Teil einer Pädagogik des Gotteszorns gegen sein eigenes Volk bestand in einer folgenschweren Verinnerlichung von Gewalterwartungen. Zudem war eine hypermoralische Konfusion vorprogrammiert, wenn die Grenze zwischen der Bestrafung einzelner Frevler (wir übernehmen den tradierten Ausdruck ohne Gewähr) und der Kollektivauslöschung immer wieder verwischt wurde. Warum sollte das Volk im ganzen wegen einzelner provokanter Sünder leiden müssen? Es konnte nicht ausbleiben, daß die Gemeinde unter dem Dauerappell des Prophetismus einen Schuldhabitus ausbildete, der in keinem sinnvollen Verhältnis zu den möglichen Vergehen ihrer Mitglieder stand. Doch eine noch so ausgeprägte prophetische Agitation konnte die Interiorisierung der autoaggressiven Regungen nicht für immer sicherstellen. Es ist darum nicht verwunderlich, wenn in einer besonders empörenden, desperaten und langwierigen Leidenssituation das traditionelle prophetische
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