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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Zornquanten für läßliche Sünden durch Vorauszahlungen mindern – ein Verfahren, das nicht bloß oberflächlich an moderne Ratenkäufe erinnert.
    In dieser Hinsicht war der Katholizismus bereits viel weiter auf den Mammonismus der Neuzeit zugegangen, als es dem nachmals vielzitierten Geist des Protestantismus bei seiner Verbindung mit dem des Kapitalismus je gelingen sollte. Immerhin ist einzuräumen, daß die katholische Zornschatzbildung und die Etablierung einer ersten allgemeinen Rachebank noch nicht alle wichtigen Bankfunktionen wahrnehmen konnten, da die Umwandlung der Zornschätze in vollgültige, verleihbare und investierbare Kapitale unter christlichen Auspizien nicht möglich war. Auf dieser Ebene kam die christliche Eschatologie über die Rolle einer Sparkasse nicht hinaus. Der Übergang zur Investition der Guthaben sollte erst den späteren Zornorganisationen des 19. und 20. Jahrhunderts gelingen.
    Die Modernität des katholischen Systems der Ablässe zeigte sich in der Unbefangenheit, mit der es die geschäftlichen Grenzen zwischen jenseitigen und diesseitigen Dingen überwand. Es schuf Verfahren, mit irdischem Geld transzendente Schulden abzuzahlen. Im 20. Jahrhundert wird der atheistischeKatholik Georges Bataille an die Notwendigkeit einer Allgemeinen Ökonomie erinnern, die nicht beim Verkehr von Waren mit Waren, Geldern mit Waren und Geldern mit Geldern stehenbleibt, sondern, erneut über die Grenzen von Dieseitigem und Jenseitigem hinweg, zusätzlich die Transaktionen des Lebens mit dem Tod in die Betrachtung einbezieht.
    Mit diesem Verweis auf die Stimulierung der frühmodernen Geldwirtschaft durch das Geschäft mit der eschatologischen Angst beenden wir die Exkursion zu den religiösen Quellen des alteuropäischen Zornmanagements. Wir können nicht beim Aufstieg aus den Katakomben mit Dante, dem Rückkehrer aus dem Inferno , sagen: e quindi uscimmo a riveder le stelle . 29 Nach der Rückkehr in die moderne Zeit sehen wir einen verhangenen Himmel, den politische Gewitterwolken bedecken. Nur an einer Stelle ist er aufgerissen. Dort sieht man den roten Stern der Revolutionen im Osten unruhig über dem kurzen 20. Jahrhundert blinken.

3   D IE THYMOTISCHE R EVOLUTION
V ON DER KOMMUNISTISCHEN W ELTBANK DES Z ORNS
    Die Axt ihnen über die Glatze tanzen lassen!
    Erschlagen! Erschlagen!!
    Bravo: und Schädelschalen sind gut zu Aschenbechern
    Rache ist der Zeremonienmeister.
    Hunger der Ordner.
    Bajonett, Browning, Bombe …
    Vorwärts! Tempo!
    Wladimir Majakowski, 150 Millionen
    D ie Überlegungen zur Herkunft, Bestimmung und Wirkungsweise des göttlichen Zorns haben uns auf einen eher selten beachteten Sachverhalt aufmerksam gemacht: Es gibt eine fieberhafte Heiterkeit, wie sie allein die apokalyptische Theorie gewährt. Sie entzündet sich an der Erwartung, alles werde letztlich völlig anders kommen, als die zur Zeit Erfolgreichen meinen. Der Blick des Apokalyptikers verwandelt die Zustände und Geschehnisse in unverkennbare Hinweise auf das nahende Ende der unhaltbaren alten Welt. Da aber dieses Ende intensiv ersehnt wird, tragen noch die dunkelsten Zeichen der Zeit eine evangelische Ladung. Während die griechische Theorie sich durch die Vorstellung erheitert, am zeitlosen Weltbild der Götter teilzuhaben, berauscht sich die apokalyptische Theorie an der Idee, daß dies alles von jetzt an nur noch Teil einer letzten Vorstellung sei.
    Wenn Tertullian nach seiner Polemik gegen die römischen Schauspiele auf die Unterhaltungen der Erlösten zu sprechen kommt und sich fragt: »Worüber soll ich lachen? Worauf soll sich meine Freude, soll sich mein Jubel richten, wenn ich dabei zuschaue, wenn so viele Könige … in tiefster Finsternislaut aufstöhnen? …«, 1 so zeigt sich in dieser Verbindung von Bild und Affekt das wahre psychopolitische Gesicht jener Positionsumkehrungen (oder eines ihres wahren Gesichter), die man später als Revolutionen beschreiben wird. Die unter religiösem Vorzeichen geforderte Totalumwälzung greift über die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits hinaus und klagt eine strikt symmetrische Vertauschung zwischen den aktuellen und den künftigen Lagen ein. Wer den Begriff Revolution in einer geometrischen Bedeutung ausgelegt sehen möchte, kann sein Interesse bei diesem metaphysischen Manöver befriedigen – und nur bei diesem. Tertullian läßt keinen Zweifel daran, daß die von Gottes Allmacht bewirkte finale Wende die Affektbilanzen der menschlichen Existenz auf den

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