Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
In einem permanenten Zweifrontenkrieg gegen die Zufriedenheit und die Ironie versuchen die Militanten ihre Existenz als Konzentrationspunkt eines weltändernden Zorns zu gestalten. Sie sind umgekehrte Romantiker, die, statt im Weltschmerz zu versinken, in sich den Weltzorn verkörpern wollen. Wie sich das romantische Subjekt als Schmerzsammelstelle begreift, an der sich nicht nur persönliche Beschwerden anhäufen, sondern das Leiden der Welt zusammenströmt, so konzipiert das militante Subjekt sein Leben als Zornsammelstelle, an der die unbeglichenen Rechnungen von überall her registriert und zu späterer Rückzahlung aufbewahrt werden. Dabei werden neben den Empörungsgründen der Gegenwart auch die ungesühnten Greuel der gesamten vergangenen Geschichte erfaßt. Die starken Köpfe des Protests sind Enzyklopädisten, die das Zornwissen der Menschheit sammeln. In ihren okkulten Archiven sind die immensen Unrechtsmassen des Zeitalters gespeichert, das die Historiker der Linken als das der Klassengesellschaften beschreiben. Daher jenes für die revolutionäre Affektivität bezeichnende Amalgam aus Sentimentalität und Unerbittlichkeit. Wer nicht den Zorn von Jahrtausenden in sich spürt, weiß nichts von den Einsätzen, um die von nun an gespielt wird.
So wird deutlich, daß nach dem Tod Gottes auch ein neuer Träger seines Zorns ausfindig zu machen war. Wer sich für diese Rolle freiwillig meldet, gibt mehr oder weniger explizit zu verstehen: Die Geschichte selbst muß den Vollzug des Jüngsten Gerichts zu ihrer Sache machen. Die Frage »Was tun?« läßt sich nur stellen, wenn die Beteiligten das Mandat empfinden, die Hölle zu säkularisieren und das Gericht in die Gegenwart zu verlegen. Hätte ein Gläubiger noch um 1900 beten wollen: Herr, des die Rache ist, erscheine! (94. Psalm),er hätte es sich gefallen lassen müssen, wenn Anarchisten und Berufsrevolutionäre ins Zimmer träten. Daß der finale Schrecken ganz irdisch, pragmatisch und politisch wird: zu einem geringeren Preis ist die Wende in die Immanenz vor dem Hintergrund monotheistischer Traditionen nicht zu haben. Zu ihren ausdrucksvollsten Verkörperungen fand diese Haltung bei den russischen Terroristen, die von 1878 an das Zarenreich mit zahllosen Anschlägen destabilisierten – »dreißig Jahre eines blutigen Apostolats«, zusammengefaßt in dem Wort des Angeklagten Kaliajew vor Gericht: »Ich betrachte meinen Tod als höchsten Protest gegen eine Welt der Tränen und des Bluts.« 12
Aus der Sicht der militanten Aktivisten bieten die aktuellen sozialen Verhältnisse – wir sprechen jetzt von einer Epoche, deren Beginn man auf das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts datieren kann – einen in jeder Hinsicht lamentablen Anblick. Alles an diesem ist zweifach beklagenswert: zum einen, daß die Dinge so stehen, wie sie sind, zum anderen, daß sie nicht ein viel höheres Maß an Empörung und Auflehnung provozieren. Es fehlen offenkundig nicht nur den meisten die Mittel zu menschenwürdiger Lebensführung, es mangelt ihnen auch an dem Zorn, sich gegen diesen Mangel aufzulehnen. Sobald man mit den bürgerlichen Fortschrittstheoretikern die Veränderbarkeit der Welt durch menschliche Eingriffe in die Natur- und Gesellschaftsordnungen zugegeben hat, rückt unvermeidlich der zweite Mangel ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Er ist ein Manko, von dem die Aktivisten glauben, sie vermöchten es durch ihre Methoden zu überwinden. Während man sich die materielle Aufhebung der Armut vom technischen Fortschritt und von einer revolutionären Umverteilung der vorhandenen Güter verspricht, zuletzt sogar von einer emanzipatorischen Neuorganisation ihrer Produktion, geben die Jünger der unbedingten Militanz bekannt, für die Vermehrung von Zorn und Empörung seien ab sofort sie selber zuständig.
Weil also die »Gesellschaft« primär unter einem unverzeihlichen Mangel an manifestem Zorn auf die eigenen Zustände leidet, wird die Entwicklung einer Empörungskultur durch methodisch betriebene Zornförderung zur wichtigsten psychopolitischen Aufgabe der Epoche, die in der Französischen Revolution beginnt. Mit ihr eröffnet die Idee der »Kritik« ihren Siegeszug durch die Sphäre der bloßen Gegebenheiten. Dem ist der radikale Habitus breiter Milieus im 19. und 20. Jahrhundert zu verdanken: Die Verwerflichkeit des »Bestehenden« galt für zahllose Zeitgenossen als ein moralisches Datum a priori . In diesem Punkt konvergierten die militanten Strömungen des 19. und
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