Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
vorgestellte Greuel eingegriffen hat. Mehr als hundert Jahre später wird sich der Kirchenvater Lactantius noch einmal die Freude gönnen, inseiner Schrift Über die Todesarten der Verfolger die realen Grausamkeiten der römischen Christenpolitik durch die imaginäre Grausamkeit der eschatologischen Revanche zu überbieten. Unverhohlen kehren beide Autoren den theaterhaften Grundzug jenseitiger Rache hervor. Dem suspendierten Zorn – Tertullian ist bekanntlich auch der erste Theologe des christlichen Racheverzichts 28 – wird die grenzenlose Befriedigung der Rache-Schaulust in der anderen Welt versprochen, bei strikter Anwendung des nachapokalyptischen Dann-erst-und-doch-schon-jetzt-Schemas.
Dem Arrangement liegt eine juristische Konzeption des Racheverzichts zugrunde: Wer hier und heute von der Rache Abstand nimmt, muß sich auf Gott als den buchführenden Gesamträcher verlassen können. Demjenigen, der die erregenden Schauspiele dieser Welt nicht besucht, soll in jener ein noch viel stimulierenderes Schauspiel geboten werden. Durch den Anblick der ewigen Torturen wird dem Verlangen der Apokalyptiker nach der Gesamtverwandlung der Welt in ein einziges Schauspiel vollkommen entsprochen. Somit finden Theorie und Ressentiment zur Einheit. Die reine Schau nimmt die Form der reinen Entschädigung an. Nicht nur genießen die Erlösten den selig machenden Anblick Gottes – sie nehmen auch an der letzten Weltanschauung Gottes teil, der auf die vernichtete und gerichtete Welt herabblickt.
Mit Einführung des Purgatoriums gerät das christliche Zornmanagement in Bewegung, das bis dahin, wie bemerkt, von der primitiven Härte der Binärentscheidung: Verdammnis versus Seligkeit, dominiert war. Dieser Aufbruch wurde durch eine logische Operation ermöglicht, von deren Kühnheit man sich von modernen Positionen her nicht mehr leicht einen Begriff macht. Um den jenseitigen Läuterungsort als dritten eschatologischen Raum zu etablieren, war die Einführung eines prozessualen Moments in die bis dahin zeitlos und statisch konzipierte Überwelt vonnöten. Dank dieses Novums wurde das mittlere Segment der Ewigkeit in die Zeit zurückgeholt und zum Schauplatz eines kathartischen Nachspiels zur irdischen Existenz umgewandelt. So tritt zur existentialen Zeit die purgatorische Nachspiel-Zeit hinzu. Man könnte geradewegs behaupten, das Purgatorium sei die Matrix und das Muster der später so genannten Geschichte – jener im Singular zu denkenden Prozeßganzheit, in deren Gang sich die Menschheit als Globalkollektiv konstituiert, um sich Schritt für Schritt von den Lasten ihrer lokalen Vergangenheiten zu befreien. Findet sogar im Jenseits noch Läuterung, Wandlung, »Entwicklung« statt, so wird der Läuterungsort latent geschichtlich. Orientiert sich die menschliche Geschichte an Läuterung (oder Fortschritt), so übernimmt sie latent purgatorische Funktionen.
Um unsere Exkursion in die Geschichte der religiösen Zornverarbeitung in der alteuropäischen Welt abzuschließen, sei auf die zunehmende Ähnlichkeit der Purgatoriumspraktiken mit förmlichen Zahlungsgeschäften hingewiesen. An ihr läßt sich demonstrieren, daß die Rede von einer Zornschatzbildung nicht bloß metaphorisch zu nehmen ist; auch der Hinweis auf den Übergang der Zornmassen von der Schatzform zur bankmäßig betreuten Kapitalform kann einigermaßen wörtlich gelesen werden. Wie man weiß, rief die Erfindung des Purgatoriums bald ein umfangreiches System von Vorauszahlungen auf die jenseitigen Reinigungsstrafen ins Leben, das unter dem Namen Ablaßhandel bekannt wurde. Dank dieser Transaktionen rechneten der Papst und die Bischöfe zu den ersten Gewinnspielern der entstehenden kapitalistischen Geldwirtschaft. Lutherischen Christen dürfte in Erinnerung sein, daß der antirömischeEifer des Reformators unter anderem durch die Auswüchse des Geschäfts mit der Höllenangst hervorgerufen wurde, das die Illusion unterstützte, man könne sich durch den Erwerb von »Indulgentien« die jenseitige Seligkeit sichern. Luthers Impuls war authentisch reaktionär, insofern er mit seinem Glaubens- und Gnadenpathos ein unnachgiebiges Zurück-zum-verdienten-Zorn-Gottes verband (der dann freilich durch die Gnade kompensiert werden sollte). Als Partisan des Entweder-Oder verabscheute er die Modernität des dritten Weges, den die katholische Kirche mit ihrer Errichtung des neuartigen Kreditsystems eingeschlagen hatte. Bei diesem konnte man die verhandelbaren göttlichen
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