Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Kopf stellt: »Laßt uns also traurig sein ( lugeamus ), solange sich die Heiden freuen, damit wir uns freuen können ( gaudeamus ), wenn sie begonnen haben, traurig zu sein …« 2 Die Symmetrie der Umkehrung wird garantiert durch die bei Gott akkumulierten Zornguthaben, mit deren Fälligwerden am Tag des Gerichts der kosmische Leidensausgleich zum Vollzug kommt. Leide in der Zeit, genieße in der Ewigkeit; genieße in der Zeit, leide für ewig. Die Satisfaktion des Ressentiments wird hier noch ausschließlich durch die Vorwegnahme der künftigen Positionsvertauschung gesichert.
Wenn eine Revolution nicht genügt
Die späteren »Revolutionen« im Realen werden nur ganz zu Beginn von Symmetriephantasmen vergleichbarer Qualität mit bewegt. Wer je geglaubt haben sollte, die Letzten würden wirklich die Ersten sein, für den erweist sich die verwirklichte Revolution als strenge Lehrmeisterin, die von dem Erziehungsmittel Enttäuschung reichlich Gebrauch macht. Restifde la Bretonne erwähnt in seinen Revolutionären Nächten unter dem Datum des 13. Juli 1789 eine Gruppe von Räubern aus dem Faubourg Saint-Antoine, einen »grauenerregenden Pöbel«, dem er die Worte in den Mund legt: »Heute ist der letzte Tag der Reichen und Wohlhabenden angebrochen: morgen sind wir an der Reihe. Morgen schlafen wir in den Federbetten, und die, deren Leben wir gnädigst geschont haben, können dann, so es ihnen beliebt, in unseren finsteren Löchern hausen.« 3 Die geschichtliche Empirie wird binnen weniger Wochen zeigen, daß die Revolution nicht zum Wohnungstausch zwischen Reichen und Armen führt. Zwar kommt es zur Umbesetzung von Positionen, allenfalls zur Vermehrung von Vorzugsplätzen und attraktiven Ämtern, jedoch nie zu einer Umkehrung von oben und unten, geschweige denn einer materiellen Gleichheit. Im günstigsten Fall verbreitert der Umsturz das Spektrum der Elitefunktionen, so daß sich eine größere Zahl von Anwärtern ihre Pfründen sichern können. Das Personal und die Semantik ändern sich, die Asymmetrien bestehen fort. Vermeidlich oder unvermeidlich? Wir haben von jetzt an die Geschichte, um diese Alternative zu prüfen.
Da Asymmetrie nur ein technisches Wort für Ungleichheit ist – und unter egalitaristischen Prämissen auch für »Ungerechtigkeit« –, werden alle Revolutionen seit der französischen von 1789 von Heckwellen aus Enttäuschungund Frustration begleitet, aus denen sich neben Resignation und zynischer Abkehr von gestrigen Illusionen immer wieder akute und aktuelle Zornformierungen ergeben. Diesen entsprangen die epochentypischen Aspirationen auf eine erweiterte und vertiefte Neu-Inszenierung des revolutionären Dramas.
Seit den Ereignissen, die auf den Sturm auf die Bastille folgten, wird die ideologische und politische Geschichte Europas durchzogen von dem Warten der Enttäuschten auf die zweite, die wahre, wirkliche und integrale Revolution, die den Betrogenen und Zurückgebliebenen der Großen Tage nachträglich Genugtuung verschaffen soll. Daher das Epochenmotto: Der Kampf geht weiter! , das mehr oder weniger explizit in allen dissidenten Bewegungen von den Radikalen des Jahres 1792 bis zu den Altermondialisten von Seattle, Genua und Davos nachzuweisen ist. Nachdem 1789 der siegreiche Dritte Stand sich das Seine geholt hatte, wollten endlich auch die Verlierer von damals zum Genuß kommen, namentlich die Vorsprecher des von den Festmählern der Bourgeoisie ausgeschlossenen Vierten Standes.
Die Hauptschuld am Ausschluß der vielen von den besseren Plätzen wurde üblicherweise nicht der strukturellen Knappheit von Vorzugsstellungen zuerkannt. Man wählte statt dessen eine argumentative Strategie, nach welcher ein Komplex aus Unterdrückung, Ausbeutung und Entfremdung dafür verantwortlich war, daß gute Plätze für alle nicht verfügbar sind. Mit der endgültigen Überwindung der bösen Trias sollte eine Welt geschaffen werden, in der die Gespenster der Knappheit und Ungleichheit vertrieben wären. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wollte man ein Theater errichten, dessen Zuschauersaal nur aus ersten Reihen bestünde.
Man hat in der zweihundertjährigen Tradition der Linken zumeist die Tatsache unbeachtet gelassen, daß die Triebkraft der Sozialutopien nur zu einem kleinen Teil dem Vorsatzentsprang, die Privilegien der herrschenden Klasse abzuschaffen. Zwar hatte Saint-Just, der Todesengel des Egalitarismus, doziert, die Macht der Erde liege bei den Unglücklichen. Sollte man
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