Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
einschließlich der grausamen eschatologischen Ausmalungen – nur im Licht einer thymotischen Ökonomie rekonstruierbar ist. Man darf die biblischen und scholastischen Begründungen des zürnenden Gottes ihrer logischen Hoffnungslosigkeit wegen auf sich beruhen lassen. In Wahrheit ist der Titel Gott in diesen Diskursen immer nur als Ortsangabe für das Depot menschlicher Zornersparnisse und gefrorener Rachewünsche zu verstehen. Der zornige Gott ist nichts als der Verwalter irdischer Ressentimentguthaben, die in ihm selbst oder bei seiner nachgeordneten diabolischen Exekutive aufbewahrt werden, um für eine spätere Abhebung parat zu sein. Die Guthaben entstehen einerseits durch gehemmte Zornimpulse, deren Ausagieren äußere Umstände verhinderten, zum anderen durch moralische Akte wie Racheverzicht und Vergebung. Die Herrlichkeit Gottes dient in diesem Kontext als Garantie seiner Geschäftsfähigkeit als Schatzverwalter und Währungshüter. Wird er als Herr der Geschichte apostrophiert, so darum, weil Geschichte genau jene Gedächtnisfunktionen einschließt, ohne deren Leistungen der stabile Zusammenhang zwischen der Einzahlung und der Auszahlung von Zornguthaben nicht zu sichern wäre.
Das Motiv der dies irae hätte seine psychohistorische Wirksamkeit nie erlangt, wäre die Vorstellung vom großen Zahltag nicht sachlogisch eng an die komplementäre Vorstellung einer langen Ansparphase geknüpft. Ja, was »Geschichte« heißt, gewinnt ihr maßgebliches Kohärenzkriterium erst dadurch, daß sie die Periode bezeichnet, während deren die Aufbewahrung der Zornquanten und Racheintensitäten ihren Wert konstant hält. Dem Tag des Zorns müssen hinreichend lange Zeiten der Zornansparung und Rachedeponierungvorausgehen. Geschichte ist der Bogenschlag von den ersten Einzahlungen bis zum Ablauf aller Fristen. So lange gilt ein striktes Inflationsverbot. In moralkritischer Perspektive heißt Inflation Wertewandel, und eben den gilt es auszuschließen.
Insoweit die historischen Christen, falls Nietzsches einschneidender Deutungsakt sie richtig beschreibt, tatsächlich nicht selten Menschen unter hohen Ressentimentspannungen waren, mußten sie jedem Wertewandel abgeneigt sein, der die historisch akkumulierten Zornguthaben bei der transzendenten Bank devaluieren könnte. Da aber die Theologen von der Unvermeidlichkeit des Wandels von Wertvorstellungen und vom Verblassen der Zorn- und Racheimpulse realistische Vorstellungen hatten, kompensierten sie die Inflationsgefahr durch die Versetzung der Strafen in die Ewigkeit. Indem alle großen Höllenstrafen für ewig gelten, wurde sichergestellt, daß keine historisch bedingten Zornentwertungsverluste hinzunehmen sind. Auch das Haus der Rache soll nichts verlieren. In diesem Zusammenhang wird die Lehre von der Ewigkeit der Strafen, ansonsten der dunkelste Fleck auf der Weste einer Versöhnungsreligion, als ausgezeichnet motivierte Forderung begreiflich. Wo das Nachtragen von Schuld über weite Strecken gehen muß, ist der Rekurs auf Ewigkeit unverzichtbar. Zum Guten wie zum Bösen ist die Ewigkeit das Asyl des Ressentiments.
Lob des Purgatoriums
Zur Ehre der christlichen Theologen in nachmittelalterlicher Zeit sei gesagt, daß sie selber die Unerträglichkeit ihrer eigenen Ressentimentkonstrukte zu empfinden begannen. Sie gerieten infolgedessen unter den Zwang, über die Abmilderung der zorntheologischen Exzesse nachzudenken. Das schlug sich in der Erfindung des Purgatoriums nieder. Man wagtvermutlich nicht zuviel, wenn man die neue Purgatoriumstheologie, die vom 11. Jahrhundert an stürmische Terraingewinne verzeichnete, als die eigentlich geschichtemachende Innovation des christlichen Denkens charakterisiert. Mit ihr wird nicht nur ein epochaler Strukturwandel der Ressentimentverarbeitung eingeleitet, es entsteht durch sie zugleich eine neue Logik der Übergänge – eine Theorie der zweiten Chancen und der dritten Orte. Wer sich die Mühe macht, diese weithin vergessenen, obschon gut rekonstruierten Phänomene 26 zu studieren, kann annähernd alles, was man im 20. Jahrhundert, in Merleau-Pontys wolkiger Wendung, »die Abenteuer der Dialektik« genannt hat, in den Vermittlungsformen der purgatorischen Prozeßlogik vorgebildet finden.
Das Bedürfnis nach der Etablierung eines dritten Orts zwischen Inferno und Paradies läßt sich nach dem Gesagten mit Händen greifen. Im Unterschied zu den Bauern und den Mönchen des Frühmittelalters, denen die unterwürfige humilitas zur
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