Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
deswegen, um dem Gesetz der Gleichheit Genüge zu tun, die Minderheit der Glücklichen so unglücklich machen wie die elende Mehrheit? Wäre es nicht tatsächlich einfacher gewesen, von den 20 Millionen Franzosen die glückliche Million ins Elend zu stürzen, als die Illusion zu wecken, man könne die elenden 19 Millionen in zufriedene Bürger verwandeln? Viel attraktiver erschien seit jeher die phantastische Idee, die Privilegien der Glücklichen in egalitäre Ansprüche umzuformulieren. Man darf behaupten, daß diese Operation den originellen Beitrag Frankreichs zur Psychopolitik des 19. und 20. Jahrhunderts lieferte. Nur ihr war es zu verdanken, wenn die Franzosen nach dem furchtbaren Zwischenspiel der Guillotine ihre Seele zu retten vermochten – obschon um den Preis einer Anhänglichkeit an rebellische Illusionen, die seither kaum eine Gelegenheit versäumt, sich in Szene zu setzen. In letzter Minute war die revolutionäre Nation von dem Abgrund, aus dem das Ressentiment gegen die Glücklichen lockte, einen Schritt zurückgetreten und hatte Mut gefaßt zu einer Offensive der Generosität zugunsten der Unglücklichen. Die Demokratisierung des Glücks bildet das Leitmotiv moderner Sozialpolitik in der Alten Welt, von den Phantasien der Frühsozialisten – »Ja, Zuckererbsen für jedermann!« – bis zu den Umverteilungsströmen des Rheinischen Kapitalismus.
Es nimmt angesichts der illusionsdynamischen Implikationen der »fortschreitenden Revolution« nicht wunder, wenn die stärksten sozialrevolutionären Impulse immer vom Aufstiegswillen jener Aktivisten ausstrahlten, die für die Massen sprachen, ohne die eigenen Ambitionen zu vergessen. Die Schwäche dieser Anwärter zeigte sich darin, daß sie eine elementare Tatsache willentlich ignorierten: Auch nach erfolgreichen Umwälzungen bleiben gute Stellungenselten und umkämpft. Dieses Wegsehen vom Realen hat Methode. Wenn es einen blinden Fleck im Auge des Revolutionärs gibt, liegt dieser in der uneingestehbaren Erwartung, sich von den Früchten des selbstbewirkten Wandels ernähren zu können. Dürfte man darum sagen, Revolutionäre seien Karrieristen wie alle übrigen? Sie sind es durchaus, und doch nicht ohne Einschränkung, da das revolutionäre Geschäft, an seinen Anfängen zumindest, unter dem Gesetz der Selbstlosigkeit steht oder zu stehen scheint. Nicht umsonst findet man in den Lobreden auf die rücksichtslosesten Funktionäre des Umsturzes die Behauptung, sie hätten für sich selbst keinen Ehrgeiz gehegt. 4 Das beweist allerdings nur die Möglichkeit, mehrere blinde Flecke zur Deckung zu bringen – ein Milieu, revolutionär oder nicht, ist immer auch eine Allianz zum gemeinsamen Ignorieren von Sachverhalten, die Milieufremden ins Auge springen. Was dabei abgedunkelt wird, zeigt sich nachträglich an der Verbitterung gescheiterter Aspiranten darüber, daß sie unversorgt blieben, während andere nach oben kamen. Dann wird die Klage angestimmt, die Revolution habe wieder einmal ihre Kinder gefressen. Den Regungen der Zurückgefallenen verdankt man den Beweis, daß der Zorn unter die erneuerbaren Energien zu rechnen ist.
Das Epochenprojekt:
Den Thymos der Erniedrigten erregen
Die angeführten Äußerungen bieten nicht bloß, wie man bei flüchtiger Wahrnehmung glauben könnte, Zeugnisse für den oft belegten Zusammenhang der erzwungenen Heiterkeit mit dem Ressentiment. Das freimütige Wort von Friedrich Engels, die ungestüme Konfession Rosa Luxemburgs, schließlich die Hinweise Antonio Negris auf das gespenstische Lächeln der Dienerin und das gleichsam bedingungslose Lachen der Underdogs – sie alle machen deutlich, daß diese Appelle an die Heiterkeit ein Ziel jenseits persönlicher Stimmungen verfolgen. Keinesfalls wollten die Autoren einer bemüht optimistischen Lebenseinstellung das Wort reden, wie sie im christlich-kleinbürgerlichen juste milieu zu Hause war. In Wirklichkeit ist das Reklamieren der Heiterkeit ausschließlich als Forderung nach souveräner Haltung von Belang. Die von den Dissidenten begehrte Souveränität wird jedoch nicht, in der Weise der Ironiker, im Schweben über dem Getümmel gesucht. Man will sie finden mitten im Schlachtenlärm der Zeit. Sie wird erlangt durch die freiwillige Übernahme einer Last, die kein vernünftig rechnenderMensch schultern würde. Souverän sein heißt wählen, wodurch man sich überfordern läßt.
Dies ergibt den Begriff revolutionärer Militanz, wie er seit dem 19. Jahrhundert gültig ist.
Weitere Kostenlose Bücher