Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
zweiten Natur geworden war, meldete das wiederentstehende Stadtbürgertum auch im religiösen Feld thymotische Forderungen an, die mit dem Terror der Unterwerfung unter die Alternative von Erwählung oder Verdammung nicht mehr verträglich waren. Die christlichen Bürger der wiederaufblühenden europäischen Stadtkulturen im beginnenden Hochmittelalter waren die ersten, die sich von der Unannehmbarkeit der überlieferten Eschatologien überzeugten. Bei ihnen kam zuerst das Bedürfnis auf, der anstößigen binären Wahl zwischen Seligkeit oder ewiger Verdammnis mittels einer Übergangsfigur die Spitze zu brechen. Dies wurde um so unvermeidlicher, als sich die eschatologischen Drohungen nicht mehr überwiegend an nicht-christliche Adressaten, die Angehörigen der gentes , die »Heiden«, die Religionsfremden sowie die »perfiden Juden«, richteten,sondern auf die mehr oder weniger frommen Bewohner des christianisierten Europa herabregneten.
Wie hart die Eschatologie der Väterzeit die verdammungswürdigen Nichtchristen anfaßte, ist unter anderem den polemischen Schriften des karthagischen Kirchenvaters Tertullian (ca. 155-ca. 220) zu entnehmen, namentlich seiner Abhandlung Über die Schauspiele . Als ein für Dogmenhistoriker eher peinliches Zeugnis folgerichtigen christlichen Denkens ist sie für die externe Deutung metaphysischer Zornverarbeitungsstrategien von hohem Zeugniswert. In de spectaculis liegt der Nexus zwischen irdischem Verzicht und jenseitiger Satisfaktion geradezu obszön offen – nicht ohne Grund haben Nietzsche und Scheler in ihren Analysen des Ressentiments auf diese Schrift expressis verbis hingewiesen. Nachdem Tertullian noch einmal die Gründe aufgezählt hat, derentwegen Christen bei den heidnischen Darbietungen nichts zu suchen haben (vor allem weil Theater Tummelplätze für Dämonen sind), kommt er unverblümt auf die himmlischen Kompensationen für irdische Abstinenz zu sprechen. Er weiß, daß es römische Christen eine gewisse Entwöhnung kostet, auf die »Spiele« zu verzichten. Viel zu sehr sind die Wagenrennen im Circus, die Obszönitäten auf dem Theater, die schwachsinnigen Übungen der gemästeten Athleten im Stadion, vor allem aber die faszinierenden Grausamkeiten in der Arena Teil des spaßgesellschaftlichen Alltags geworden, als daß sich der Nichtbesuch solcher Darbietungen ganz von selbst verstehen könnte. Tertullian hat jedoch eine Entschädigung für das Fernbleiben von den römischen Schauspielen parat. Den irdischen Darbietungen wird eine göttliche Komödie gegenübergestellt, die nicht nur der Schaulust Genüge tut, sondern auch dem performativen Charakter der Herrlichkeit Gottes mittels expliziter Rachedemonstrationen Rechnung trägt. Was nämlich wird den erlösten Seelen im Himmel die höchste Genugtuung gewähren? Sie können sich dem Anblick eines exquisiten Strafvollzugs widmen:
»30. Was für ein Schauspiel aber steht uns demnächst bevor – die Wiederkehr des nunmehr nicht mehr in Frage gestellten, des nunmehr stolzen, nunmehr triumphierenden Herrn! … es kommen gewiß noch andere Schauspiele, jener letzte und endgültige Tag des Gerichts … Was soll ich da bestaunen? Worüber soll ich lachen? Worauf soll sich meine Freude, soll sich mein Jubel richten, wenn ich dabei zuschaue, wenn so viele Könige … in tiefster Finsternis laut aufstöhnen? … Wen sehe ich außerdem? Jene weisen Philosophen, wie sie rot werden in Gegenwart ihrer Schüler, die gemeinsam mit ihnen brennen. … Dann werden die Tragödien noch vernehmlicher zu hören sein, weil sie (die Dichter) natürlich bei ihrem eigenen Unglück noch stimmgewaltiger sind; dann wird man die Schauspieler gut erkennen können – sie werden durch das Feuer noch viel lockerer sein; dann wird der Wagenlenker zu sehen sein, wie er am ganzen Körper rot auf seinem lodernden Wagen steht … es sei denn, ich will diese Leute nicht einmal dann sehen, weil es mir lieber ist, meinen Blick unersättlich auf diejenigen zu richten, die gegen den Herrn gewütet haben … Welcher Praetor oder Consul … wird dir das mit seiner Freigiebigkeit bieten können? Und doch haben wir das alles schon in gewisser Weise bildlich vor Augen, da es sich der Geist dank des Glaubens vorzustellen vermag …« 27
Tertullians Aussage wiegt schwer, weil sich in ihr der Prozeß der Zornverarbeitung nach-apokalyptischen Stils in einem Frühstadium zeigt, bei dem noch nicht die innere Zensur gegen offen gezeigte Befriedigung durch
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