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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Produktionsverhältnissen steckt, sollte dem guten Willen zu Diensten sein und ein ganzes Weltalter des Unrechts beenden helfen. Die Revolution fördern – das hieß jetzt sich beteiligen am Bau eines Fahrzeugs in die bessere Welt, das von den eigenen Zornreserven angetrieben und von utopisch unterrichteten Piloten gesteuert würde.
    Die Arbeit hieran mußte mit der Förderung der zornhaften Antriebskräfte beginnen. Intellectus quaerens iram hätte die Formel hierfür lauten können, hätten die Doktoren der Arbeiterkämpfe noch Latein gesprochen: Tatsächlich, sobald sich die Einsicht auf die Suche nach dem Zorn begibt,entdeckt sie eine Welt von Gründen, sich aufzulehnen. Wer wissen möchte, was es mit dem vormals vielbeschworenen Übergang von der Theorie zur Praxis auf sich hatte, sollte die erste Neugier mit dieser Auskunft befriedigen können. De facto sind aber nur Intellektuelle von der Verlegenheit betroffen, daß die Theorie bei ihnen der Praxis vorhergeht, indessen sich für die Praktiker die Lage seit jeher umgekehrt darstellt. Sie haben ihre Kampflinie gefunden und suchen die Begründungen hinzu. Wenn etwa Bakunin 1869 im Blick auf die Dumpfheit der russischen Volksstimmung statuierte: »Wir müssen mit allen Mitteln diesen verderblichen sozialen Schlaf stören, diese Eintönigkeit, diese Apathie … Wir wollen, daß jetzt nur die Tat das Wort führe …«, 15 wandte er sich an eine kommende Welle von Terroristen, die es nicht mehr nötig haben würden, nach Theorien zu fragen, um anzufangen, was sie beginnen wollten. Für sie galt die umgekehrte Formel: ira quaerens intellectum , vorausgesetzt, ihr Zorn hätte wirklich nach etwas jenseits seines Horizonts gesucht. Auf den realen Bühnen gehen der Zorn, die Empörung oder die »Bewegung« so gut wie immer den Ideologien voraus. Und was die kämpfenden Helden zur Erklärung ihres Handels auch vorbringen mochten: Wo cum ira et studio gedacht wird, folgt die Erklärung der Bahn, die der Zorn schon beschreitet.
    Es wäre eine lohnende Aufgabe für Psychohistoriker und Politologen, die Geschichte der sozialen Bewegungen seit dem Vorabend der Französischen Revolution bis ins Zeitalter der postmodernen Zerstreuungen als den Roman der thymotischen Kollektive neu zu erzählen. Tatsächlich blickt die Militanz in der Moderne auf eine lange Formenreihe von Zornkörperbildungen zurück – in Gestalt von Geheimbünden, terroristischen Orden, revolutionären Zellen, nationalen und supranationalen Vereinigungen, Arbeiterparteien, Gewerkschaften aller Schattierungen, Hilfsorganisationen, künstlerischen Assoziationen – alle intern organisiert durch ihre jeweiligen Mitgliedschaftsbedingungen, die Riten ihres Vereinslebens sowie ihre Zeitungen, Zeitschriften und Verlage. Vergessen wir nicht, daß auch für die russischen Revolutionäre im Exil die Herausgabe ihrer Zeitungen, insbesondere der ominösen Iskra , und deren heimliche Verbreitung unter dem zaristischen Regime den Hauptinhalt ihrer Aktivitäten ausmachte. Alle diese Zornkörper, so verschieden ihre Organisationsformen und Kommunikationsmedien sein mochten, kandidierten gegeneinander für die Hauptrolle im Drehbuch der Geschichte nach 1789: die des revolutionären Subjekts, das mit langem Atem die von der Bourgeoisie auf halbem Weg unterbrochene Arbeit der Befreiung – und eo ipso die Demokratisierung der Privilegien – zu Ende führen würde.
    Fast ohne Ausnahme beginnen die Sammlungen des Zorns mit der Anrufung des »Volkes«. In seiner Eigenschaft als Reservoir subversiver Elans und
     explosiver Unzufriedenheiten wurde diese mythische Größe immer von neuem für die Schöpfung aufrührerischer Bewegungen in Anspruch genommen. Aus dieser
     Matrix aller Matrizen emanierten über zwei Jahrhunderte hinweg die konkreteren Ausgestaltungen der thymotischen Kollektivorgane – von den französischen
     Jacobinerclubs und den enragés der Großen Tage über die englischen Dissenters und die »Armen Christi« (jenen wesleyanischen Methodisten, die ihre
     Subjektwerdung als Berufung zum Amt des Moralpredigers erfuhren 16 ) bis zu den Aktivisten der russischen,
     chinesischen, kubanischen und kambodschanischen Revolutionen und den neuen sozialen Bewegungen im globalen Kapitalismus. Keines dieserKollektive hätte in Form kommen können ohne den überschwenglichen Glauben, daß in besagtem »Volk« Zorn und Gerechtigkeit eins geworden waren.
    In das unüberblickbar breite Spektrum der politischthymotischen

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