Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
verstockten landbesitzenden Adels attackierte. Tatsächlich beginnt der Angriff der besitzlosen Mehrheit auf die besitzende Minderheit, der seit der Erfindung des »Menschen« den Gang der politischen wie der ideologischen Transaktionen dominiert, in dem Augenblick, in dem die Besitzlosen sich als Menschenpartei aufstellen und in der Eigenschaft von Menschen Träger gleicher Rechte sein wollen. Menschenrechte sind Arrivistenrechte – während die Privilegierten seit jeher auf ihre Gewohnheit, an der Macht zu sein, verweisen, ist für die Elenden »der Mensch« immer ein zu großes Wort. In den Aufstiegs- und Besitzstandswahrungskämpfen ambitionierter Mittelschichten gewinnt die Rede von den Rechten, die Menschen als Menschen zukommen, ihre volle Klangkraft. Die Summe der Gefechte an dieser Front heißt seit dem frühen 19. Jahrhundert Klassenkampf.
Es war die Stärke der marxistischen Doktrin, den idealistischen Elan der Paineschen Menschenrechtserklärung durch eine breite Schicht materialistischer und pragmatischer Argumente zu untermauern – und dies zu einer Zeit, als Materialismus und Pragmatismus im Begriff waren, zur Religion der Vernünftigen zu werden. Aufgrund des Marxschen Beitrags verlagerte sich das Schwergewicht der Begründungen menschlicher Würde von dem christlich-humanistischen Begriff der ebenbildlich erschaffenen Gattung zu einer historischen Anthropologie der Arbeit. Der wesentliche Würdegrund wurde nun in der Forderung gefunden, daß Menschen – als Schöpfer ihres eigenen Daseins – auch Anspruch auf den Genuß der Resultate ihrer Tätigkeit besitzen. Infolgedessen war eine semi-religiöse Aufladung der Begriffe »Arbeit«, »Arbeiterschaft«, »Produktionsprozeß« und dergleichen wahrzunehmen, die dem Konzept des Proletariats, das zunächst nur ein ökonomiekritischer Terminus war, eine messianische Note gaben. Wer künftig in Marxschen Wendungen von »Arbeit« sprach, bezeichnete nicht nur den Faktor desProduktionsprozesses, der dem »Kapital« als ausbeutbare Quelle der Wertschöpfung gegenübersteht. Arbeit wurde zugleich zu einer anthropogonischen, ja geradezu demiurgischen Größe, auf deren Wirken das Menschenwesen selbst, die Zivilisation, der Reichtum und sämtliche höheren Werte zurückgehen.
Kein Wunder also, wenn die so getönte Rede von Arbeit zu einem Appell an die thymotischen Regungen des arbeitenden Kollektivs geriet. Das Proletariat war mit einem Mal herausgefordert, zu begreifen, daß es selbst, seiner oft betonten Entmenschung und Verdinglichung zum Trotz, die wahre Matrix aller Humanität und aller Zukunftspotentiale bildete. Umgekehrt erhellte aus dieser Anordnung der Begriffe: Wer als Feind der Arbeiter identifiziert wird, ist zugleich der Feind der Menschheit. Als solcher hat er es verdient, in die Vergangenheit zurückgestoßen zu werden. Nun war nur noch plausibel zu machen, daß die Klasse der Kapitalbesitzer, ungeachtet ihrer zuweilen respektablen privaten Moral, als solche die Position von Arbeiterfeinden einnahm, um die Frontlinien eines Bürgerkriegs von bisher unbekanntem Typ vor Augen zu sehen – Frontlinien, an denen sich die Parteien des unumgänglichen »letzten Gefechts« gegenüberstanden. Der ultimate Krieg sollte Feindschaft ohne Beiwort freisetzen: die kapitalbesitzenden Bourgeois, samt ihrem wohlversorgten Anhang, als die objektiven Unmenschen auf der einen Seite, die allein wertschaffenden Proletarier, mitsamt ihrer Eskorte aus hungrigen Nachkommen, als die objektiv wahren Menschen auf der anderen. In diesem Krieg fechten die ungleichen Hälften der ganzen Wahrheit über den produzierenden Menschen miteinander – und weil die eine Seite, wie es heißt, ein bloß parasitäres Verhältnis zur Produktion unterhält, indessen die andere die authentisch Produzierenden umfaßt, muß letztere auf mittlere und längere Sicht unvermeidlicher- und berechtigterweise siegen. Von da an hieß den Kern der Realität begreifen: den Weltbürgerkrieg denken. 31 Da dieser Krieg als ein umfassender konzipiert war, wurde Neutralität in ihm nicht gewährt.
Allein vor diesem anthropologischen Hintergrund wird die Karriere des Begriffs »Klassenbewußtsein« verständlich. An ihm ist, wie man jetzt leicht nachvollziehen kann, nicht so sehr der Akzent auf »Bewußtsein« von Bedeutung – da dieses, präzise genommen, unwiderruflich eine Eigenschaft von psychischen Systemen oder Individuen darstellt – als vielmehr der auf »Klasse«. Man würde heute den
Weitere Kostenlose Bücher