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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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20. Jahrhunderts, gleich ob sie eher den anarchistischen, den kommunistischen, den international-sozialistischen oder den national-sozialistischen Parolen folgten.
    Betrachtet man allein die Ebene der begabteren Köpfe, so ist ihnen eine gewisse megalothymische Grundstimmung gemeinsam. Sie bringt sich zum Ausdruck in der Gewißheit, daß nur die generöse Empörung zur Führung der jeweiligen Bewegung qualifiziert. Naturgemäß ist Militanz, wofür auch immer, ohne eine gewisse Dosis thymotischer Erregbarkeit nicht zu denken. Jetzt aber heißt »militieren« nicht weniger, als der menschlichen Geschichte ein neues Subjekt unterstellen, ein Subjekt, das in der Regel aus den Plasmen »Volk« und »Zorn« modelliert wird – und dem die Vorsprecher das Wissen und das Eifern hinzufügen. In dem Maß, wie sich die Militanz mit moralischer und sozialer Intelligenz verbindet, wächst der nur scheinbar private Zorn-und-Stolz-Komplex ihrer Agenten zur authentischen Megalothymie heran. Der militante Mensch zürnt nicht in eigener Sache, er macht gegebenenfalls sein persönliches Empfinden zum Resonanzboden einer allgemein bedeutsamen Aufwallung des Zorns. Ob man den meistens guterzogenen und wohlgenährten Rebellenihre idealischen Generalisierungen glaubt oder nicht, ist fürs erste eine bloße Geschmacksfrage.
    Jedenfalls blieben die militanten Idealismen, die während der letzten zweihundert Jahre zu wichtigen, ja bestimmenden Faktoren der großen Politik geworden sind, ganz unverständlich, ließe man die megalothymischen, vulgo die ehrgeizigen und bedeutungssüchtigen Regungen ihrer Träger außer Betracht – sie würden jedenfalls noch befremdlicher, als sie es für die heutigen Bürger des Westens, diese Angehörigen eines Zeitalters ohne Idee von großer Politik, ohnedies schon sind. Sie erklären zugleich, warum die stärkeren Intelligenzen der oppositionellen Bewegungen zumeist moralisch sensible Bürgerliche waren, die, angetrieben von einer Mischung aus Ambition und Empörung über die bestehenden Verhältnisse, ins Lager der Revolte oder der Revolution übergingen. Für sie alle galt, was Albert Camus von der Geburt der neuen Gemeinschaft aus dem Geist der Indignation sagte: »Ich empöre mich, also sind wir« 13 – ein Satz, dessen kaum nachvollziehbares Pathos ganz offenkundig einer untergegangenen Epoche angehört. In verwandtem Sinn ließ Heiner Müller, wenige Jahrzehnte später, eine seiner Figuren deklamieren: »Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand.« 14
    Warum Aussprüche dieser Tendenz den Geschmack der Gegenwart verfehlen, muß hier nicht umständlich erläutert werden. Sie klingen hohl wie Parolen aus einem Almanach für gebildete Verlierer. Dem Historiker können sie als Belege dafür dienen, daß die vielzitierte Figur des »revolutionären Subjekts« in psychopolitischer Hinsicht immer in erster Linie ein operationsfähiges thymotisches Kollektiv bezeichnete. Naturgemäß hätte sich ein solches zu keiner Zeit unter einem solchen Titel präsentieren dürfen – nicht nur, weil man schon im bürgerlichen Jahrhundert die Lehre vom Thymos zu vergessen begann, sondern auch, weil Zorn, Ehrgeiz und Empörung als Motive zu Auftritten auf der politischen Bühne damals wie heute nie zureichend schienen. Immerhin dämmerte die Einsicht, wonach ohne die unvornehme Basis der edlere Überbau Fiktion bleiben mußte. Das Vergilisch-Freudsche Motiv, man wolle die Unterwelt aufrühren, wenn man die oberen Götter nicht für sich einnehmen kann, beschreibt nicht nur die Hadesfahrten der Psychoanalyse; es deutet auch auf die politischen Arrangements zur Freisetzung der Kräfte, die unter den zivilisatorischen Hüllen auf die Gelegenheit zum Ausbruch warteten wie Typhon, das hundertköpfige Ungeheuer, das Zeus vorzeiten unter dem Ätna begraben hatte.
    Die Rhetorik der Linken stand von Anbeginn vor der Aufgabe, die Affekte der »gefährlichen Klassen« in die Sprache der Ideale zu übersetzen. Es war die Mission der revolutionären Semantik, sich an die von unten aufsteigenden Energien anzukoppeln, um sie mit apollinischen Parolen zu überformen. Tatsächlich bildete diese Verbindung des Oberen mit dem Unteren die fixe Idee der neuen Zeit: Wer künftig zugunsten der Erniedrigten und Beleidigten Geschichte machen wollte, mußte über bloße Postulate hinausgehen. Er hatte zu zeigen, daß für diesmal die historische Tendenz mit der Moral konform verläuft. Die Gewalt der Tatsachen, die in den

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