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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Formationen im 19. Jahrhundert rechnen sich auch jene frühen deutschen Kommunistenbünde, vor deren derben Auftritten Heinrich Heine, wie er in seinem Buch Geständnisse , 1854, zu Protokoll gab, zurückschreckte. Über ihr frühhooliganisches Gefolge schrieb er in seinem visionären Gedicht Die Wanderratten die Zeilen:
    »Sie tragen die Köpfe geschoren egal
    Ganz radikal, ganz rattenkahl.« Er war darüber schockiert, daß Weitling, der Schneidergeselle mit den utopisch ausgreifenden Ideen, bei einer zufälligen persönlichen Begegnung in einem Hamburger Buchladen die Mütze auf dem Kopf behielt und sich, in der hysterischen Distanzlosigkeit des Darstellers eigener Leiden, vor den Augen des Dichters den Fußknöchel rieb, an dem in Gefängnistagen seine Ketten gehangen hatten. Gleichwohl hatte Heine in seinen Briefen über Deutschland zehn Jahre zuvor die psychohistorische und ideengeschichtliche Unvermeidlichkeit dieser neuen Bewegungen in ausgewogener Prosa gewürdigt:
    »Die Vernichtung des Glaubens an den Himmel hat nicht bloß eine moralische, sondern auch eine politische Wichtigkeit. Die Massen tragen nicht mehr mit christlicher Geduld ihr irdisches Elend und lechzen nach Glückseligkeit auf Erden. Der Kommunismus ist eine natürliche Folge dieser veränderten Weltanschauung, und er verbreitet sich über ganz Deutschland.«
    Was am meisten zugunsten der kommunistischen Sache wirke, sei die moralische Haltlosigkeit der heutigen Gesellschaft, die sich nur noch aus platter Notwendigkeit verteidige, »ohne Glauben an ihr Recht, ja ohne Selbstachtung, ganz wie jene ältere Gesellschaft, deren morsches Gebälke zusammenstürzte,als der Sohn des Zimmermanns kam«. Hinsichtlich der französischen Kommunisten bemerkte Heine in einem Korrespondentenbericht aus dem Jahr 1843, er spreche mit Vorliebe von ihnen, weil ihre Bewegung als einzige »eine entschlossene Beachtung« verdiene, insofern sie
    »der Ecclesia pressa des ersten Jahrhunderts sehr ähnlich, in der Gegenwart verachtet und verfolgt wird und doch eine Propaganda auf den Beinen hat, deren Glaubenseifer und düsterer Zerstörungswille ebenfalls an galiläische Anfänge erinnert«. 17

Klassenbewußtsein – Die Thymotisierung
des Proletariats
    Die bei weitem folgenreichste Zornkörperbildung vollzog sich auf dem linken Flügel der Arbeiterwegung, als dieser im letzten Drittel
     des 19. Jahrhunderts mehr und mehr unter den Einfluß der Marxschen Ideen geriet. Die strategischen Erfolge des Marxismus beruhten, wie man rückblickend
     feststellen kann, auf dessen Überlegenheit bei der Formulierung eines hinreichend präzisen Modells für das potentiellund aktuell geschichtsmächtige Zornkollektiv des damaligen Zeitalters. Die maßgebliche thymotische Wir-Gruppe sollte von da an das Proletariat, genauer: das Industrieproletariat heißen. Zu dessen Definition gehörte im Marxschen Denken nicht nur ein systematisches Konzept von Ausgebeutet-Sein. Sein Entwurf wurde ergänzt durch eine sittlich anspruchsvolle historische Mission, die um die Begriffe Entfremdung und Wiederaneignung kreiste. Bei der Befreiung der Arbeiterklasse sollte es schließlich um nicht weniger gehen als um die Regeneration des Menschen. Sie würde die Deformationen beseitigen, die aus den Lebensbedingungen der Mehrheiten in den Klassengesellschaften resultierten.
    Für die thymotisierenden Tendenzen in der frühen Arbeiterbewegung wird neben Impulsen aus dem christlichen Erweckungssektentum besonders die von Thomas
     Paine (in Erwiderung auf Edmund Burkes Kritik der Französischen Revolution) ausformulierte Erläuterung der Menschenrechte , 1791-1792,
     bedeutsam. Die Pointe dieser Schrift läßt sich zusammenfassen in der Forderung, Besitzlosigkeit sei nicht länger als Vorwand zu politischer Entrechtung
     hinzunehmen. Wenn der deutsche Refrain des Kampflieds der kommunistischen Bewegung Völker, hört die Signale … mit der Zeile endet: »die
     Internationale erkämpft das Menschenrecht«, reiht er sich unmißverständlich ein in die Tradition der Besitzlosenermächtigung. Die universalistisch
     gefaßten Menschenrechte formalisieren einen Anspruch auf Würde, den die Briten bis dahin in der klingenden Formel der birthrights ausgedrückt
     hatten. Dieses Wort war dazu bestimmt, die vom politischen Brauch verfestigte oligarchische Gleichsetzung von Besitz und Rechtsfähigkeit zu sprengen 30 – in ihm klingt das Pathos nach, mit dem Cromwells Kavallerieder Erwählten die Stellungen des

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