Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Vorräte anderer nicht zu vergessen).
Der wichtigste ideelle Reflex der frühagrarischen Vorratshaltungskultur tritt in dem Handlungsmuster Ernte zutage. Seit es den Saat-Ernte-Zusammenhang gibt, wird das bäuerliche Leben von einem alles durchdringenden Habitus geprägt: dem des alljährlichen Wartens auf den Moment der Reife. Aus der Ernte folgt die Erfindung des Vorrats als Grundlage des gemeinsamen Lebens während eines Jahreszyklus. Der Archetypus Vorrat drängt der Intelligenz der ersten Bauern und Beamten die Handlungsmuster »Sparen«, »klug Einteilen«, »Umverteilen« auf. Wird das Schema der Ernte auchmetaphorisch verfügbar, können alle Arten von Schätzen in Analogie zu Früchten als Vorräte angehäuft werden – beginnend mit Waffen und Schmuck bis hin zu den Schätzen des Heils, der Künste, des Rechts und des Wissens, mittels deren eine Kultur ihr symbolisches Überleben sicherstellt.
Wie man weiß, hat Martin Heidegger den Vorschlag entwickelt, den philosophischen Logos-Begriff, der von dem griechischen Verbum legein herzuleiten ist, an das agrarische Schema der »Lese« zurückzubinden. Demnach wären das logische Erkennen von Schriften und das deutende Wahrnehmen von Umständen in gewisser Weise die Fortsetzung der Erntearbeit mit symbolischen Mitteln. Von hier aus scheint die Vorstellung naheliegend, daß die Sphäre des Wissens ihrer Form nach einen höheren vorratswirtschaftlichen Zusammenhang bildet, bei dem die Saaten der Tradition in den je gegenwärtigen Generationen aufgehen sollen, um bei der immer neu einzubringenden Ernte der Erkenntnis gesammelt zu werden. Unter solchen Bedingungen konnten sich auch Philosophen (ansonsten strikt auf urbane Kontexte angewiesen) noch als hybride Bauern vorstellen.
Heideggers Lehre vom Logos als Lese des Sinns bleibt folgerichtig bei einem vormodernen Wissensbegriff stehen. Indem der Denker an dem antiken und mittelalterlichen Archetypus des durch Sammlung gewonnenen Vorrats oder Schatzes festhielt, weigerte er sich, die Modernisierung der Wissensproduktion durch die Forschung mitzuvollziehen. In dieser sah er eine fatale Entstellung der »ursprünglich gewachsenen«, vortechnischen Gegebenheitsweise der Dinge. Tatsächlich wird Forschung – in bemerkenswerter Analogie zur Entfaltung des Bankwesens in der neueren Geldwirtschaft – in Instituten der organisierten Wissensanhäufung und -innovation praktiziert, namentlich den wissenschaftlichen Akademien und den modernen Universitäten. Mit ihren Personalen und Apparaten erfüllen sie die Rolle von authentischen Wissensbanken – und Banken kooperierenbekanntlich stets als Partner und Beobachter von Unternehmen. Im kognitiven Bereich fällt die Unternehmerfunktion den Forschungsinstituten zu. Sobald das Wissen von der Schatzform – wie sie zuletzt von den pansophischen Gelehrten des Barock bis hin zu Leibniz verkörpert wurde – zur Kapitalform übergeht, darf es nicht mehr allein als träger Vorrat akkumuliert werden. Die Bildungsregel »Erwirb es, um es zu besitzen«, tritt bei dem zur Forschung dynamisierten Wissen außer Kraft. Es wird nicht mehr als Besitz angeeignet, sondern dient als Ausgangsmaterial für seine erweiterte Reproduktion, ganz so, wie das moderne Geld, statt in Schatzkisten und Sparstrümpfen gehortet zu werden, in die Zirkulationssphäre zurückkehrt, um sich in Umläufen höherer Stufe zu verwerten.
Dieser Formwandel des Wissens stellt keine Innovation des 20. Jahrhunderts dar, obwohl es zutrifft, daß dieses Zeitalter zuerst in expliziten Ausdrücken von Wissensökonomie und Kognitionswirtschaft gesprochen hat, um sich bis zu hybriden Konzepten wie dem der »Wissensgesellschaft« aufzuschwingen. Der Sache nach ist der Prozeß des Wissens auf kapitalanaloge Grundlagen gestellt, seit der jeweils aktuell disponible Vorrat an wissenschaftlichen Erkenntnissen für die erweiterte Reproduktion kraft organisierter Forschung erschlossen wurde. Die von Leibniz so intensiv geforderte Einrichtung wissenschaftlicher Akademien gehört zu den Leitsymptomen des Übergangs.
Forschung entspricht somit im Bereich des Wissens dem Komplex von Tätigkeiten, der in der monetären Sphäre als Investieren bezeichnet wird: Sie impliziert das kontrollierte Risiko, bisher Erworbenes zugunsten künftigen Erwerbs aufs Spiel zu setzen. Von der Verlaufskurve solcher Risikooperationen wird erwartet, daß sie trotz konjunktureller Schwankungen eine kontinuierliche Akkumulation beschreibt. Freilich kennt das
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