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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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»soziales Kapital« sorgfältig regenerieren und reinvestieren müssen. Selbst Nichtchristen dürfte es nicht schwerfallen, nachzuvollziehen, wieso Vorgänge wie die oben beschriebenen aus innerkirchlicher Perspektive als das Werk des Heiligen Geistes gedeutet werden konnten. In unserem Kontext genügt es, die Realität eines nicht-monetären Bankwesens auch an diesem Beispiel nachzuweisen. Was freilich den Werken der Liebe recht ist, wird denen des Zorns billig sein.

Zornbeschaffung durch Kriegsanleihen
    Die voranstehenden Überlegungen haben erläutert, wieso das Revolutionsprojekt Lenins durch einen massiven Mangel an thymotischem
     Kapital geprägt war. Die Unvermeidlichkeit dieses Mangels resultierte aus der historischen Lage. Zwarfehlte es um 1917 keineswegs an antizaristischen Affekten. Auch durfte man ein großes Reservoir an Aspirationen in Richtung auf Demokratie, Selbstverwaltung, Freizügigkeit und Landverteilung unterstellen, doch waren diese einfach weckbaren oder verstärkbaren Tendenzen weit davon entfernt, mit den forcierten staatskapitalistischen Entwicklungskonzepten der leninistischen Übergangszeitlehre zu harmonieren. In der Sprache der Revolutions-Insider wurde dieser Befund durch den Hinweis auf das noch fehlende »Klassenbewußtsein« bestätigt. Naturgemäß konnten Lenin selbst diese Verhältnisse nicht verborgen bleiben. Er war daher, um der Kohärenz seiner Visionen willen, auf die Erwartung einer baldigen proletarischen Revolution in Deutschland angewiesen, von der er sich eine Aufstockung der völlig unzureichenden russischen Kapitalbasis versprach. Als diese ausblieb und als deren ohnedies schwachen Ansätze nach der Ermordung ihrer Führer ganz in sich zusammenfielen, wurde die Notwendigkeit alternativer Thymosmobilisierungen in Rußland akut.
    Auf die konstitutive Rolle des Terrors für die Beschaffung von breiter Zustimmung zu den Zielen der Revolution wurde bereits hingewiesen. Ihm sollte bald eine kulturrevolutionäre Front zugeordnet werden: An dieser kämpfte man um die massenhafte Erzeugung der erwünschten Gesinnungen durch intensivste Propaganda in Verbindung mit der Monopolisierung der Erziehung dank bolschewistisch indoktrinierter Lehrer und Lehrpläne. In diese Kampagnen fällt die Blüte der russischen Kunstavantgarde, der erst die neue rigide Kulturpolitik nach der Machtübernahme Stalins ein Ende setzte. Noch folgenreicher war jedoch die Schaffung solidarischer Kampfstresskollektive, die den Soll-Zustand thymotischer Homogenisierung durch gemeinsame Feindwahrnehmungen herbeiführten.
    Man kann im Lichte der pychopolitischen Logik ohne Übertreibung behaupten, daß die Russische Revolutionin ihren ersten Jahren durch die Konterrevolution gerettet wurde – ebenso wie die chinesische Revolution ihren Triumph letztlich den Japanern verdankte, die im Gefolge ihrer Invasion in China 1937 bis 1945 die Voraussetzungen schufen, unter denen die schwachen kommunistischen Reserven durch den massiven Zufluß nationalpatriotischer Regungen verstärkt wurden. Mao Zedong hat nach dem Sieg seiner Truppen kein Geheimnis daraus gemacht, daß der chinesische Kommunismus ohne den japanischen Überfall auf verlorenem Posten gestanden hätte. Er war humorvoll genug, japanischen Besuchern zu erklären, China sei ihrem Land hierfür ewig zu Dank verpflichtet.
    Beobachtungen wie diese bestätigen die Vermutung, daß auch die thymotische Realpolitik ganz eigenen Gesetzen folgt. Die Direktoren der neuen Weltbank waren dazu verurteilt, sich ihre Unterstützung dort zu holen, wo sie aus stressbiologischen und kulturdynamischen Gründen am leichtesten zu finden war: bei den Stolz-, Zorn- und Selbstbehauptungsquellen der national synthetisierten Kampfgemeinschaften. Daher war es von Anfang an notwendig, die Kapitalbasis der Zornweltbank – neben den terrorerzeugten Anleihen bei der Angst – durch die Mobilisierung der patriotischen Thymotik zu verbreitern. Nicht umsonst beschwor Lenin gern das Bild Rußlands als einer »belagerten Festung«. Obschon sich das sowjetische Experiment in einem postnationalen Horizont vollzog, war die Vorstellung vom bedrohten Vaterland eine unentbehrliche Matrix zur Erzeugung kämpferischer Energien. Immerhin wurde der Begriff des Vaterlandes stets auch in internationalistischen Perspektiven interpretiert, da die Sowjetunion, die »Heimat aller Werktätigen«, einen Hybridkörper darstellte, der zugleich ein Territorium und eine Idee umfaßte. Das ominöse Konzept

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