Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Medien löst Krisen aus, die vom Archiv als effektiver Kunst- und Kulturbank üblicherweise durch Umwertung der Werte überwunden werden. 44
Das Phänomen der Schatzbildung, das bis an die Schwelle eines förmlichen Bankwesens führt, ist schließlich auch im religiösen Bereich
anzutreffen. Was die Christen seit dem ersten Jahrhundert ihres Bestehens die ekklesia nennen, ist keineswegs nur ein von gemeinsamen
Glaubenssätzen zusammengehaltener Personenverband. Von Anfang an bedeutete das Konzept Kirche ebenso eine Sammelstelle für Zeugnisse, die die Wirklichkeit
des Heils in der Zeit bekunden. Die ekklesiogene Sammlungsbewegung begann spätestens im zweiten Jahrhundert mit der Zusammenstellung der Evangelien und
Apostelschriften. Deren Kondensierung zum neutestamentlichen Kanon besaß schon früh einen hohen polemischen Wert, da die Geschichte der »wahren Religion«
sich als permanenter Abwehrkampf gegen Abweichungen vollzog. Zu dem evangelischen Nukleus kamen in stetigerAkkumulation die Apostelgeschichten aus der frühen Mission, dann die Märtyrergeschichten aus der Ära der »bedrängten Kirche« hinzu – ein Zustrom, für den nicht zuletzt das Nachwirken der Apokalyptik und die noch lange lebendige Erwartung der nahen Wiederkehr verantwortlich waren. Seither ist Kirchengeschichte immer in einem gewissen Maß Märtyrergeschichte geblieben – die glücklichen Epochen der Kirche sind die leeren Seiten der Martyrologie. (Das Martyrologicum Romanum , ein literarisches Beinhaus der gesamten Glaubensgeschichte, umfaßte bei seiner Neuausgabe im Jahr 2001 nicht weniger als 6990 Einträge. Es bildet einen Schatz aus Zeugnissen für christliche Opferbereitschaft von den ältesten Verfolgungen bis ins 20. Jahrhundert.) Dem folgen die Viten der Heiligen, die Legenden der Wüstenväter und die zahllosen Lebensgeschichten der Seligen und Vorbildlichen. Vollendet wird die erbauliche Sammlung christlicher Exempla durch den doktrinalen Schatz der konziliaren Formulierungen (mit dem »Denzinger« als dem Beinhaus der Dogmatik), der in den Beiträgen der akkreditierten Theologen seine körperreicheren Fassungen erlangt. Schließlich fügt die Chronik der Bischöfe und die Geschichte der Orden und Missionen den funkelnden Schätzen des Glaubens ein farbiges Archiv hinzu.
Autorität meint im Katholizismus also – neben dem Lehramt der Bischöfe und doctores – stets auch den Glanz des »Kirchenschatzes«, der dank einer zweitausendjährigen Anhäufung in immer neuen Exemplifikationen die in der ekklesia anwesende »Heilswirklichkeit« zu bezeugen hat. Es ist allerdings fraglich, ob die katholische Verwaltung dieser »Realitäten« den effektiven Übergang von der Schatzform zur Kapitalform zu vollziehen imstande ist, da ihre Sorge um Rechtgläubigkeit die Reinvestition überlieferter Werte in innovative Projekte stark behindert. Dennoch ist dem zeitgenössischen Katholizismus die Idee der erweiterten Reproduktion des Heilsschatzes nicht fremd. Johannes Paul II . hatauf seine Weise die Herausforderung der Moderne beantwortet und in Zeiten rückläufiger Betriebserfolge ein wichtiges Segment des sakralen Kapitals, die Schar der Heiligen, um über einhundert Prozent aufgestockt. Die vierhundertdreiundachtzig Heiligsprechungen (neben 1268 Seligsprechungen) in seiner Amtszeit sind nur als Teil einer umfassenden Offensive zur Umwandlung träger Heilsschätze in operative Heilskapitale angemessen zu würdigen. Kirchenhistoriker haben errechnet, daß die allein von Johannes Paul II . vorgenommenen Kanonisierungen zahlreicher sind als die der gesamten Kirchengeschichte seit dem späten Mittelalter. Ohne Zweifel wird die Bedeutung dieses Papstes künftig primär an seiner Tätigkeit als Mobilisator des Kirchenschatzes abgelesen werden.
Der Hinweis auf diesen römisch administrierten Schatz von Zeugnissen für die permanente »Realität des Heils« macht deutlich, daß die Erfolgsgeschichte des Christentums nicht bloß durch die Errichtung der metaphysischen Rachebank vorangetrieben wurde, von der im vorherigen Kapitel ausführlicher die Rede war. Sie verdankt sich ebenso dem hier angedeuteten Vorgang, den man am besten wohl als eine Schatzbildung der Liebe umschriebe, ja vielleicht sogar als die Schaffung einer Weltbank des Heils. An deren Resultaten nehmen auch die Weltkinder teil, die sich nicht für die Heilsschätze der Kirchen interessieren, jedoch bereit sind, zuzugeben, daß erfolgreiche »Gesellschaften« ihr
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